Organspende: Wer nicht will, der kann widersprechen
Transplantate von Toten retten Leben - aber es gibt viel zu wenig. Die Politik muss ein deutliches Zeichen setzen. Ein Kommentar.
Von „Staatsversagen“ ist meist viel zu schnell die Rede. Der Staat kann nicht alle Gefahren abwehren und Risiken ausschließen, die eine Gesellschaft treffen können. Was er aber kann: Gefahren frühzeitig erkennen und Risiken mindern. Stellt er sich hier blind und taub und ist unfähig zu handeln, liegt ein Versagen vor.
Beim Umgang mit der Organspendepraxis könnte man auf diesen Gedanken kommen. Seit Jahren sinkt in Deutschland die Zahl der Spender. Wie viele andere europäische Länder hat sich jetzt auch das niederländische Parlament für eine Widerspruchslösung entschieden, um für die hohe Nachfrage mehr Angebot zu schaffen. Nur wer sich ausdrücklich verweigert, bleibt nach dem Hirntod garantiert unversehrt. Über alle anderen kann verfügt werden.
Ursachenforschung ist der falsche Ansatz
Seit Jahren wird darüber auch in Deutschland diskutiert. Passiert ist wenig, während die Liste verzweifelt Wartender länger wurde. Ursachenforschung ist ausnahmsweise der falsche Ansatz. Die Gründe für den Rückgang liegen wesentlich in technischen und zivilisatorischen Fortschritten. Ein erheblicher Faktor etwa dürfte die gestiegene Sicherheit im Straßenverkehr sein. Der Unfalltod ist seltener geworden. Jung und damit gut entnahmetauglich sterben ohnehin die wenigsten, dank hoher Lebensqualität und hervorragender medizinischer Standards. Wer wollte daran etwas ändern? Das Glück der Gesunden ist das Pech der Patienten.
Nein heißt nein
Die Widerspruchslösung ist ein drastisches Konzept. In einer Phase seines Lebens, in der er seine Kräfte entfalten will, konfrontiert sie den Einzelnen mit dem zu diesem Zeitpunkt unvorstellbaren Ende. Das richtige Leben, plötzlich beginnt es mit dem Tod.
Doch jenseits dieser eher gefühlten Diskrepanz bleibt wenig übrig, darin einen Eingriff in die individuelle Freiheit zu sehen. Nein heißt schließlich nein. Entsprechend dokumentiert, sei es bei einem Zentralregister oder der Krankenversicherung, kann es zuverlässig dabei bleiben, auch auf der Intensivstation.
Dennoch ist der Widerstand gegen die Widerspruchslösung notorisch, was mit christlich-moralischer Skepsis ebenso zu tun hat wie mit den Erfahrungen aus einer höllischen Diktatur. Oft fällt das Wort vom „Zwang“ zur Abgabe, die dann auch keine Spende mehr sei. Sich ethisch zu verhalten ist jedoch kein Privileg des Individuums. Auch eine Gesellschaft als Ganzes darf sich überlegen, ob sie angesichts des Notstands in den Hospitälern mehr tut, als an die gute Seele der Mitmenschen zu appellieren. Viel mehr steckt auch in der Widerspruchslösung nicht. Sie ist letztlich eine Zumutung, an die man sich gewöhnen kann.
In Zukunft wird noch mehr gerettet
Damit es leichter fällt, könnte abgestuft vorgegangen werden. Etwa mit Fristen, die einen Nicht-Widerspruch nach Ablauf zum Widerspruch erstarken lassen. Oder einem erweiterten Widerspruch, der Angehörigen das Recht auf ein Veto belässt. Doch um das Thema nur auf organisatorischer Ebene in den Krankenhäusern zu behandeln, ist es zu groß. Und es wird größer. In Zukunft wird noch mehr gerettet werden können und weniger gestorben werden müssen. Die gesund Lebenden werden sich von den Leidenden weiter entfremden. Wird nicht umgesteuert, droht staatliches Organversagen.