Justiz vor dem Kollaps?: Wer in Berlin Straftaten begeht, hat nicht viel zu befürchten
Der Berliner Oberstaatsanwalt Knispel klagt an: Der Rechtsstaat funktioniert nicht mehr! Warum ist das so – und was wird dagegen getan?
Wer in Berlin Straftaten begeht, hat nicht viel zu befürchten. Es muss schon eine schwere Straftat sein, damit es überhaupt zur Strafverfolgung kommt, leichtere Delikte werden entweder eingestellt oder die Akten liegen so lange herum, dass es am Ende nur noch zu sehr milden Strafen kommt. Oberstaatsanwalt Ralph Knispel findet für die Zustände in der Justiz drastische Worte, und er ist nicht der einzige. Der Rechtsstaat sei „in Teilen nicht mehr funktionsfähig“, sagte Knispel jetzt in der Talksendung „Markus Lanz“, und mit Blick auf die Verbrecher: „Die lachen uns aus.“
Wie ist die Ausgangslage?
Dramatisch natürlich, und zwar seit Jahren. Eine vorübergehend unerträgliche Lage stecken Staatsanwälte und Strafrichter weg. Aber dass die Zustände seit Jahren katastrophal sind und sich in den Augen vieler sogar immer weiter verschlimmert haben, ist ein Problem. Viele Strafkammern am Landgericht nehmen wegen Überlastung keine Haftsachen mehr an. „Die körperliche und seelische Belastbarkeit der Kollegen sinkt ab Mitte 40 rapide“, sagt ein Staatsanwalt. „Zwei Drittel des Personals sind hier aber zwischen Anfang 50 und Anfang 60. Gefühlt jeder vierte ist krank oder dauerkrank.“ Das bedeutet auch: Es gehen bald viele gleichzeitig in Pension. Die Justizverwaltung ist jedoch optimistisch, dass sie diesen Schwund ausgleichen kann – sie stellt derzeit massiv ein und weiß gar nicht, wo sie die neuen Leute unterbringen soll.
Wie eng ist es am Strafgericht in Moabit?
In Europas größtem Strafgericht in Moabit sitzen Dezernenten, also Staatsanwälte, jetzt schon in früheren Garderoben. Verdient ein Zimmer den Namen Büro, so müssen es sich zwei Staatsanwälte teilen. Im Kammergericht wurden sogar frühere – fensterlose – Lagerräume zu Richterzimmern umfunktioniert; das fehlende Licht kommt von Tageslichtlampen. Richter ist ein schöner Beruf mit viel Freiheit. Eine davon ist es, zu Hause arbeiten zu können. Das tun viele angesichts ihrer Arbeitsbedingungen gern – sind dort aber für Anwälte und Geschäftsstellenmitarbeiter unerreichbar.
Welche Folgen hat der Ausnahmezustand?
Es mangelt nicht nur an Platz und Ausstattung, auch an Sitzungssälen. Verhandelt werden ohnehin praktisch nur noch Haftsachen, also Verfahren, bei denen der Angeklagte in Untersuchungshaft sitzt. Bis zum Urteil ist Untersuchungshaft Freiheitsentziehung und muss deshalb so gering wie möglich gehalten werden. „Neulich wollten wir eine Nicht-Haftsache terminieren, einen Fall von Kindesmissbrauch, aber das ging nicht, weil kein Saal frei ist“, sagt ein Strafrichter am Landgericht. Im Klartext: Ein mutmaßlicher Kinderschänder läuft frei und unbestraft herum, weil die Justiz leider keinen Gerichtssaal hat. Es müssen auch immer wieder Straftäter aus der Untersuchungshaft entlassen werden, weil gegen das Beschleunigungsgebot verstoßen wurde. Im vergangenen Jahr betraf dies 13 Personen. „Ich sage meinen Freunden immer: Ihr könnt ruhig Straftaten begehen, Ihr habt nichts zu befürchten“, sagt der Richter mit einem bitteren Lachen.
Was unternimmt der Senat, um die Lage zu verbessern?
Der „Pakt für den Rechtsstaat“ der Bundesregierung mit den Ländern hat bundesweit 2000 neue Stellen gebracht; auf Berlin entfallen davon 102 zusätzliche Stellen bei Richtern und Staatsanwälten. Berlin hat nach Angaben der Justizverwaltung diese Vorgaben schon aus eigener Kraft erfüllt – tatsächlich ist es Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) gelungen, im Haushalt zweimal nacheinander erheblich höhere Mittel für die Justiz lockerzumachen, im Doppelhaushalt 2020/2021 sogar erstmals mehr als eine Milliarde Euro. Das hilft ihm aber nur, wenn er auch Leute findet, die er einstellen kann, und Büros hat, in die er sie setzen kann. Zudem dauern die Einstellungsverfahren viel zu lange, wie Kammergerichtspräsident Bernd Pickel kürzlich im „Votum“, der Zeitschrift des Richterbunds, bemängelte. Als ersten Schritt hin zu mehr Platz hat die Justizverwaltung das frühere Air-Berlin-Gebäude am Saatwinkler Damm gemietet; dort soll in wenigen Monaten die Vollstreckungsabteilung der Staatsanwaltschaft einziehen, 200 Personen, 5000 Quadratmeter. Das bringt Entlastung beim Platz, dafür aber Mehrbelastungen bei den Daheimgebliebenen, denn die Weggezogenen werden voraussichtlich vom Sitzungsdienst abgezogen. Ein Oberstaatsanwalt sagt: „Ist doch toll, endlich bewegt sich was!“ – und fügt hinzu: „Ist ja schon viel für ein Land, das nicht imstande ist zu bauen.“ Er habe gehört, es solle Bundesländer geben, in denen einfach neue Gerichtsgebäude hochgezogen würden. Und dem Kammergericht ist damit nicht geholfen. Dort steigt die Zahl der Terrorverfahren und Staatsschutzsachen, und es gibt weiter keine Sicherheitssäle.
Wie steht Berlin im Bundesvergleich da?
Im März wurde der jüngste Rechtsreport veröffentlicht, für den im November 2018 fast 1000 Staatsanwälte und Richter vom Allensbach-Institut befragt wurden. Die Berliner waren bei dieser Umfrage mit Abstand am unzufriedensten. Auch in anderen Bundesländern gab es Klagen über schlechte Ausstattung, Besoldung, Arbeitsbedingungen, aber in Berlin kumulierte alles. Hierbei können auch Kleinigkeiten enorm nerven. So erlaubt das Programm, mit dem die Staatsanwaltschaft ihre Vorgänge verwaltet, keine Toleranz bei der Schreibweise von Namen. Vorgänge werden oft gar nicht gefunden, da speziell ausländische Namen immer mal anders geschrieben werden. Stabiles Internet gibt es auch nicht.
Es haben sich viele Flaschenhälse gebildet. Beweise liegen jahrelang und werden nicht ausgewertet – bei der Polizei zum Beispiel dauert es bis zur Auswertung von DNA-Spuren etwa in Wohnungseinbruchsfällen zwei bis drei Jahre und selbst bei schweren Straftaten und Tötungsdelikten Monate – so schildert es Knispel bei „Markus Lanz“. Knispel ist Vorsitzender der Vereinigung Berliner Staatsanwälte. Verfahren werden zudem immer komplexer, auch weil es viele Daten auszuwerten gilt. Dadurch haben sich überall hohe Rückstände gebildet. Laut Knispel sind obendrein 8500 Haftbefehle nicht vollstreckt, auch Täter von schweren Straftaten laufen frei herum. Die Senatsverwaltung konnte diese Zahl am Freitag nicht mehr bestätigen.
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