Berliner Justiz: Wenige Minuten pro Fall
Ein Streit im Kiosk, eine Razzia im Puff. Im Moabiter Kriminalgericht wachsen die Aktenstapel. Und es mangelt nicht nur an Zeit.
Der Rechtsweg beginnt für Sonja Leistner jeden Morgen gegen 8.45 Uhr mit den immer gleichen Schritten. Im Moabiter Kriminalgericht holt sie in den fünf Geschäftszimmern ihrer Abteilung die Akten, die dort für sie bereitliegen. Buchstabe B bis C, sortiert nach den Namen der Beschuldigten, Diebstahl, Raub, Drogen, Erpressung, Betrug, Körperverletzung. Nach den ersten drei Räumen kann sie die Last noch tragen, im vierten benötigt sie einen kleinen Wagen, im fünften hat sie insgesamt 37 Akten aufgeladen. Die kommen zu den 17 auf ihrem Schreibtisch, die sie gestern nicht erledigen konnte, weil sie im Gerichtssaal festsaß.
Der Teppichhändler, der einer alten Dame 30.000 Euro abgeschwatzt hat, der Mann, der einen Verkäufer in einem Bahnhofskiosk angespuckt haben soll, die Razzia im Neuköllner Puff, ihnen allen kann Staatsanwältin Leistner von der Abteilung Allgemeine Kriminalität in den kommenden acht Stunden jeweils neun Minuten einräumen. Sonst wächst der Aktenberg weiter. Neun Minuten, in denen sie Opfern gerecht werden, Schuldige von Unschuldigen trennen muss.
Es gibt Menschen, die sehen in Stapeln, wie sie sich in den Zimmern von Sonja Leistner und ihren Kollegen aufhäufen, den Rechtsfrieden gefährdet. Im Oktober beklagte der Vizepräsident des Berliner Landgerichts in einem offenen Brief an den Justizsenator, dass die Strafkammern hoffnungslos überlastet seien. Und Ralph Knispel, Vorsitzender der Vereinigung Berliner Staatsanwälte, sagt: „Wir haben es schon fünf nach zwölf.“ Aber was bedeutet das? Aufklärung bringt vielleicht ein Tag im Moabiter Kriminalgericht.
Was schnell geht, liegt oben
Der Chef der Staatsanwaltschaft hat zugestimmt, dass ein Außenstehender Sonja Leistner bei ihrer Arbeit begleiten darf – unter einer Bedingung: Die Anklägerin, Anfang 40, seit 13 Jahren im Amt, kurze Haare, Jeans, schwarzer Rollkragenpullover, muss einen anderen Namen tragen, schon um sie zu schützen. Und die Vertraulichkeit ihrer Arbeit ist zu wahren.
Sonja Leistner bleibt mit dem Aktenwagen vor ihrem Zimmer im zweiten Stock stehen. Das Büro hat etwa 14 Quadratmeter, die mannshohen Sprossenfenster zeigen auf den Hof. Es gibt fünf Grünpflanzen, eine blüht, die Wände sind wie so oft in Behörden hellelfenbein gestrichen. Bei seinem Bau im Jahr 1906 war das damals „Neue Kriminalgericht“ in Moabit Berlins erstes Gebäude mit elektrischem Licht und hochmodern. Heute nennt man neobarocke Häuser wie dieses altehrwürdig.
Die Anklägerin hat die Akten nach einer oberflächlichen Sichtung sortiert. Priorisieren nennt sie das, es dauert etwa zehn Minuten. Was schnell geht, liegt oben. Manche Akten bestehen aus kaum mehr als einem halben Dutzend Seiten. Andere dagegen umfassen mehrere Ordner und werden von einem drei Zentimeter breiten Stoffgürtel zusammengehalten. In Moabit sagt man zu solchen Bündeln „Gürteltiere“.
Sie sieht sich als Dienstleisterin
Erster Fall. In Bayreuth hat ein Mann eine Mitteilung angeblich von Amazon bekommen, dass sein Konto gehackt wurde. Er sollte seine Daten eingeben. Tatsächlich handelte es sich um eine Phishing-Mail. Das ist versuchter Identitätsdiebstahl. Im Aktenstapel finden sich etliche ähnliche Fälle. Oft geht es um Waren, die Kunden weder bestellt noch erhalten haben, aber bezahlen sollen. In der Regel wird das Verfahren eingestellt, Täter unbekannt, nicht zu ermitteln, heißt es dann, weiter geht es nur, „…sollten Ihnen in der Folgezeit neue Umstände bekannt werden…“. Solche Formulierungen ruft Sonja Leistner auf Tastendruck auf.
Der Absender der Mail soll in Berlin sitzen. Die Kollegen aus Bayreuth haben den Fall deshalb vermutlich gern abgegeben. Das Opfer bekommt ein paar persönliche Zeilen. Sonja Leistner sieht sich als Dienstleisterin. Schließlich sei der Mann verunsichert, er habe einen Anspruch darauf, dass sie ihm jetzt erkläre, warum in seiner Sache nicht mehr unternommen werde. Sechs Minuten braucht sie für den Fall, beinahe, denn leider arbeitet der Drucker nicht wie er soll, ein immer wiederkehrendes Darstellungsproblem auf ihrem Schirm. Die drei gutgemachten Minuten rinnen wieder dahin.
Nächster Fall: Eine Frau beschuldigt ihren Ex, anstößige Bilder von ihr im Internet verbreitet zu haben. Klingt seltsam, aber da greift das Kunsturhebergesetz. Kommen noch gehässige Kommentare dazu, ist der Tatbestand der Beleidigung und Verleumdung erfüllt. Doch bei Verstößen gegen das Kunsturhebergesetz besteht eine Pflicht zur schriftlichen Anzeige, mündlich bei der Polizei reicht nicht. Strafantrag muss drei Monate nach Bekanntwerden von Tat und Täter gestellt werden, die sind verstrichen. Sonja Leistner stellt also ein. Der Drucker macht wieder Probleme, kommen noch zwei Minuten dazu, sieben im Minus.
70 Prozent aller Fälle werden eingestellt
Ein paar Flure und Ecken weiter sitzt Ralph Knispel in seinem Büro. Knispel ist nicht nur Interessenvertreter der Staatsanwälte, sondern auch Chef der Abteilung Kapitalverbrechen. Laut dem aktuellen Statistischen Jahrbuch erheben die deutschen Staatsanwälte nur noch in 22 Prozent aller Verfahren Anklage oder stellen Antrag auf Erlass eines Strafbefehls, sagt Knispel. „Die Quote ist so niedrig wie nie.“ Beinahe 70 Prozent aller Fälle wurden eingestellt. Weil der Täter nicht ermittelt oder die Tat für geringfügig erachtet wurde. In Berlin waren das 2016 rund 75.000 eingestellte Ermittlungsverfahren, etwa 30.000 mehr als noch 2012.
Es wäre doch zu prüfen, sagt Knispel, ob das mit der Überlastung der Ankläger zusammenhängt. Nach dem Motto, Hauptsache, die Akte ist weg.
Sonja Leistner kämpft sich bis mittags weiter durch ihre Ordner: Warenbetrug im Internet, Körperverletzung im Straßenverkehr, ein Ex, der seine Freundin bedroht hat. Die gibt an, er besitze eine Waffe. Leistner hatte deshalb eine Hausdurchsuchung beantragt. Das Ersuchen wandert erst in den Ausgangskorb, von dort in die Geschäftsstelle, mit dem Aktenwägelchen geht es weiter zum Richter, der die Durchsuchung anordnet. Dann nimmt die Akte denselben Weg zurück. Bis zum Vollzug sind vier Wochen vergangen. Jetzt liegt das Ergebnis vor: Es konnte keine Waffe gefunden werden.
Weiter. Sonja Leistner beantragt die Überprüfung eines syrischen Passes auf Echtheit – was Monate dauern kann. Die nächste Akte: Eine Funkzellenabfrage, bei der alle Telefonverbindungsdaten zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort überprüft wurden, hat 2000 Euro gekostet, aber nicht auf die Spur eines gesuchten Enkeltrick-Betrügers geführt.
Berliner Kammerflimmern
Setzen die Strafverfolgungsbehörden falsche Prioritäten?
Sonja Leistner sagt, sie mag ihren Beruf. Sie mag es, Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Doch bis zum Mittag hat sie noch keinen Täter seiner Strafe auch nur ein Stück näherbringen können. Dafür spricht sie über eine Sorge, die viele hier bewegt: Dass irgendwo zwischen diesen unzähligen roten, blauen oder gelben Pappdeckeln ein dicker Fisch übersehen werden könnte, sich eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit verbirgt und erst hinterher erkannt wird. Einer wie Anis Amri, der Attentäter vom Breitscheidplatz, den man schon im Herbst 2016 wegen gewerbsmäßigen Drogenhandels hätte festnehmen können, lange bevor er zum Mörder wurde.
Michael von Hagen, derzeit stellvertretender Behördenleiter der Berliner Staatsanwaltschaft und Sonja Leistners Vorgesetzter, sitzt im gleichen Haus. Doch hier kommt kein Publikum vorbei, die Glastür zu diesem Trakt kann nur passieren, wer sich per Klingelzeichen anmeldet.
Setzen die Strafverfolgungsbehörden vielleicht die falschen Prioritäten, in dem sie zu viel Zeit für Fälle aufwenden, bei denen der Schaden gering und die Aufklärung unwahrscheinlich ist? Natürlich nicht, sagt er. Der Staat dürfe seinen Anspruch auf Strafverfolgung nicht aufgeben, nur weil er keine Zeit hat. Und was ein geringer Schaden ist, das sieht das Opfer wahrscheinlich ganz anders.
Die größten Personalzuwächse seit der Wende
Die Frage sei für ihn nicht, ob die Strafverfolger die richtigen Prioritäten setzten, sondern ob der Staat seine Mittel richtig verteile. Funkzellenüberwachung, Internetrecherche, Terrorabwehr, die Ermittlungsaufgaben würden immer komplexer. Immerhin, die Polizei bekomme nach den Jahren des Sparzwangs nun neue Leute. Doch im Gegenzug sei eine gesamte Mordkommission mit ihren acht Ermittlern für die Terrorbekämpfung abgezogen worden.
Welche Vorschläge hat er, die diese Misere beenden könnten? Von Hagen weiß, dass manche hier gern die Strafprozessordnung straffen würden, das hält er für unrealistisch. „So einfach das klingt“, sagt er, „wir brauchen mehr Geld.“ Für Personal, bessere Ausstattung und angemessene Räumlichkeiten. Früher hätten sie hier Schreibkräfte gehabt, und Staatsanwälte mussten sich ihre Akten nicht selber holen, „sie konnten sich in vollem Umfang den Ermittlungen widmen“. Noch 2010 zählte die Staatsanwaltschaft nach einer Broschüre vom damaligen Tag der offenen Tür 988 Beschäftigte, davon 360 Staatsanwälte. 2016 waren es 826 Beschäftigte, davon 312 Staatsanwälte.
Mehr Geld hat Justizsenator Dirk Behrendt von den Grünen, von Beruf Richter und seit einem Jahr im Amt, versprochen. Allein für die Staatsanwaltschaft sind 22 Stellen im Doppelhaushalt 2018/19 bewilligt. Behrendt spricht von den größten Zuwächsen seit der Wende. Für Versäumnisse vergangener Regierungen könne man ihn nicht verantwortlich machen.
Kommt die elektronische Akte?
18 neue Kollegen werden zu Beginn dieses Jahres erwartet, zwei weitere sind wieder abgesprungen. Der Zuwachs sei ein Schritt in die richtige Richtung, sagt von Hagen. Doch einstweilen reichten die Neuen noch nicht aus, die 30 Staatsanwälte zu ersetzen, die zum Generalstaatsanwalt, zum Generalbundesanwalt oder in die Senatsverwaltung abgeordnet wurden.
Bei den Neueinstellungen konkurriert Berlin beispielsweise mit Hamburg. Dort habe der Senat schon vor drei Jahren erkannt, dass die Staatsanwaltschaft ihrer Aufgabe kaum noch nachkomme und Mittel für neue Leute bereitgestellt, sagt Nana Frombach, Sprecherin der mit 600 Mitarbeitern zweitgrößten deutschen Anklagebehörde. Die Neuen dürfen beim Einstiegsgehalt 300 Euro mehr im Monat erwarten. Außerdem begann in Hamburg am 1. Januar 2018 ein Pilotprojekt zur Einführung der elektronischen Akte. Das Hin- und Herschieben von Aktenwagen soll bis 2026 ein Ende haben. An dem Projekt wird auch in Berlin schon länger gearbeitet. In der Staatsanwaltschaft rechnet man mit der Einführung dennoch nicht vor dem Jahr 2020.
Sonja Leistner ist verhalten optimistisch, was diese Akte betrifft. Ihre Pappdeckel seien wenigstens sicher gegen Hackerangriffe. Sie schlägt den nächsten auf. „Ich habe ein Messer, ich stech’ dich ab“, soll der Beschuldigte einem Ladendetektiv gedroht haben – räuberischer Diebstahl mit Waffen. Das Urteil erging bereits Mitte 2015: ein Jahr und zehn Monate. Staatsanwaltschaft und Verteidigung gingen in die Berufung. Wegen Überlastung der Berufungskammer ist bis heute keine Entscheidung gefallen. Ein neuer Gerichtstermin ist für Januar 2018 angesetzt. Sonja Leistner ist sicher, dass die Strafe nun geringer ausfallen wird. Das sei in der Strafprozessordnung vorgesehen: Bei rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen gibt es einen Vollstreckungsnachlass.
"Unerträglich für das Gerechtigskeitsempfinden"
Das Magazin „Panorama“ hat recherchiert, dass in Deutschland nicht so sehr die Zahl der Verfahren deutlich angestiegen sei, dafür aber deren Länge. Das hat mit den Rechten der Angeklagten zu tun, die sich im europäischen Rahmen verbessert hätten, sagt Sonja Leistners Vorgesetzter Michael von Hagen. Komplizierter geworden ist auch die Urteilsbegründung. Reichten früher selbst bei Tötungsdelikten zehn Seiten, geht es heute kaum unter 40, alles andere gilt als oberflächlich, sodass eine Urteilsaufhebung durch den Bundesgerichtshof droht.
Auch das hat dazu geführt, dass die Gerichte zum Nadelöhr geworden sind. Verfahren, bei denen der Beschuldigte in Untersuchungshaft sitzt, müssen vorgezogen werden, bei allzu großen Verzögerungen sind die Angeklagten wieder freizulassen. Deshalb müssen alle anderen Fälle warten. Gerade auf Wirtschaftsstrafsachen, wo selten Untersuchungshaft verhängt würde, treffe das zu, sagt Justizsenator Behrendt und kritisiert das als „unerträglich für das Gerechtigkeitsempfinden“.
Den Tag zuvor verbringt Sonja Leistner im Gerichtssaal. Es geht um bandenmäßigen Drogenhandel, beschuldigt sind vier Männer aus dem nordafrikanischen Raum. Vier Beschuldigte bedeutet in diesem Fall acht Anwälte, ein Dolmetscher, drei Berufsrichter, zwei Schöffen, ein Ersatzschöffe und zwei Staatsanwälte. Die Doppelbesetzungen sind nötig, damit das Verfahren nicht von vorne beginnen muss, falls einer ausfällt.
Der erste Haftbefehl des Tages
Der Prozess dauert bereits drei Monate und ist auf mindestens drei weitere angesetzt. Das Gericht befragt einen Polizeibeamten als Zeugen, der die Gruppe observiert hat. Im Grunde steht seine Aussage so auch in den Akten, doch vor Gericht gilt das gesprochene Wort. Die Festnahme ist ein halbes Jahr her, der Polizist muss sich erinnern. Die Verteidiger möchten gerne wissen, welcher technischen Hilfsmittel sich die observierenden Polizeibeamten bedienten. Das will der Zeuge nicht sagen, Dienstgeheimnis. Mindestens 15 Minuten geht es hin und her, ob er zu Recht schweigt. Falls nicht, haben die Verteidiger schon mal einen Revisionsgrund. Nach drei Stunden sind alle erschöpft, das Verfahren wird für die Mittagspause unterbrochen.
Aus solchen Prozesstagen resultieren Stapel wie der mit den 17 liegengebliebenen Akten. Sonja Leistner widmet sich dem ersten Gürteltier. Vier Stunden hat sie in diesen Fall bereits investiert, ihr Neun-Minuten-Kontingent längst überschritten. Und bis 17 Uhr muss sie die Sache fertig haben. Heute werden wie jeden zweiten Mittwochnachmittag die Computer runtergefahren, zur Wartung. Natürlich könnte man die auch in die Nachtstunden verlegen, aber für Extraschichten des technischen Personals ist kein Geld da.
In Leistners letztem Fall des Tages geht es um den betrügerischen Einkauf mit angeblich gefundenen Scheckkarten. 40 Fälle sind dokumentiert. Der Polizei ist es gelungen, noch drei Monate nach der Tat im letzten Dezember die vom Täter unterzeichneten Kopien bei den Abrechnungsfirmen sicherzustellen. In acht Fällen fanden sich seine Fingerabdrücke. Für jeden einzelnen Beleg muss Sonja Leistner jetzt die Daten aufnehmen. Sie beginnt zu tippen: Ort, Uhrzeit, Schadenssumme, Geschädigter...
Was bei 40 Belegen dauert. Kurz vor 17 Uhr ist es soweit. Der Haftbefehl geht raus, ihr erster heute. „Man sagt mir nach, dass ich das Pech habe, meine Haftbefehle würden immer sehr rasch vollstreckt.“ Womit die Akte bald wieder bei ihr landen würde. Pech? Sie lacht. Das ist natürlich ein Scherz.