„Flügel“-Strippenzieher Kalbitz ist wieder da: Wer gewinnt im AfD-Machtkampf die Oberhand?
Andreas Kalbitz ist vorerst zurück in der AfD. Jetzt spitzt sich der Machtkampf bei den Rechten weiter zu. Der „Flügel“ sinnt auf Rache.
Als Andreas Kalbitz den mit rot-weißen-Bändern abgesperrten Bereich des Marktplatzes betritt, unterbricht der Redner oben auf der Bühne kurz seinen Beitrag. „Unser frischer, alter und neuer Landesvorsitzender“, ruft er. Kalbitz, wie immer in weißem Hemd und blauem Jackett, geht festen Schrittes auf die Menge zu. Die Leute drehen sich zu ihm um, einige klatschen, andere schütteln ihm die Hand. Der Redner auf der Bühne ist zur Nebensache geworden.
35 Tage war der brandenburgische AfD-Chef Kalbitz raus aus seiner Partei, seine Mitgliedschaft annulliert. Doch ein paar Stunden vor dem Auftritt hat ein Gericht entschieden, dass Kalbitz, zumindest vorläufig, wieder aufgenommen werden muss. Hier auf dem pittoresken Marktplatz im brandenburgischen Senftenberg hätten sie ihm auch zugejubelt, wenn das Gerichtsurteil anders ausgesehen hätte. Doch jetzt spürt man, mit welcher Genugtuung Kalbitz ein paar Minuten später oben auf der Bühne steht.
Er ruft Sätze wie: „Wir haben in Deutschland kein Problem mit strukturellem Rassismus, wir haben ein Problem mit struktureller Inländerfeindlichkeit.“ Das erinnert an einen alten NPD-Slogan. Aber Kalbitz sagt das wieder als Mitglied des AfD-Bundesvorstands.
Gekämpft wird mit harten Bandagen
Für einige in der AfD ist das ein ernstes Problem. Denn die Partei befindet sich im Machtkampf, dem schwersten womöglich, seitdem Parteichef Bernd Lucke 2015 seinen Hut nahm. Da sind auf der einen Seite jene, die hinter Parteichef Jörg Meuthen stehen. Und jene, die finden, dass es ein Fehler war, dass Meuthen Kalbitz im Mai mit einem Überraschungscoup aus der Partei befördert hat.
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Gekämpft wird mit harten Bandagen, die Kalbitz-Anhänger sinnen auf Rache. Es geht um Macht, es geht um Mandate und Posten und darum, was für eine Partei die AfD sein will. Seit dem Kalbitz-Urteil stellt sich drängender denn je die Frage: Welche Seite gewinnt die Oberhand?
Für ein paar Wochen sah es so aus, als hätte man Parteichef Meuthen unterschätzt. Der Wirtschaftsprofessor hatte sich gewandelt: Von einem, der mit dem rechtsextremen „Flügel“ um Björn Höcke und Andreas Kalbitz paktiert – hin zu einem, der ihn bekämpft. Das hat damit zu tun, dass Meuthen eine Gesamtbeobachtung durch Verfassungsschutz um jeden Preis verhindern will.
Vorwurf: Die Mitgliedschaft im Nazi-Trupp verschwiegen
Der Parteichef setzte sich für die Auflösung des „Flügels“ ein. Das allein hätte kaum Wirkung gehabt, weil die Strukturen des Netzwerks weiter bestehen bleiben. Aber Meuthen holte zwei Monate danach zu einem gewichtigeren Schlag aus. Er setzte im Bundesvorstand die Annullierung der Mitgliedschaft von Kalbitz durch. Die Begründung: Kalbitz habe bei der Aufnahme in die AfD seine frühere Mitgliedschaft bei den vom Verfassungsschutz beobachteten Republikanern sowie beim Nazi-Trupp „Heimattreue Deutsche Jugend“ (HDJ) verschwiegen.
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Meuthen konnte eine knappe Mehrheit des Bundesvorstands auf seine Seite ziehen, die „Siebener-Gruppe“. Mit ihm stimmte die Berliner AfD-Politikerin Beatrix von Storch. Gegen Meuthen standen Fraktionschefin Alice Weidel, der Ehrenvorsitzende Alexander Gauland und Co-Parteichef Tino Chrupalla.
Ob die Entscheidung, Kalbitz mit diesem formalen Kniff rauszuwerfen, juristisch Bestand haben würde – das war von Anfang an umstritten. Meuthen ist zwar überzeugt, im Recht zu sein. Aber die Sache ist kompliziert. Es gibt ein Gutachten des Verfassungsschutzes, in der von einer Mitgliederliste der HDJ die Rede ist, in der unter der Mitgliedsnummer 01330 die „Familie Andreas Kalbitz“ aufgeführt wird. Doch niemand in der AfD hat die Liste je gesehen. Kalbitz hat eine eidesstattliche Versicherung abgegeben, dass er nicht Mitglied war. Und der vorbestrafte Rechtsextremist Sebastian Räbiger, früher HDJ-Bundesführer, versichert, in den Listen der HDJ seien damals auch Leute aufgeführt gewesen, die sich lediglich interessiert hätten.
Wer wird Spitzenkandidat?
Dazu kommt noch: Der Mitgliedsantrag, in dem Kalbitz seine Vita verschwiegen haben soll, ist verschollen. Es gibt zwar eine Excel-Tabelle, in der die AfD damals Neumitglieder erfasste. Und darin ist bei Kalbitz’ früheren Mitgliedschaften tatsächlich nur „CSU“ und „Junge Union“ aufgelistet. Aber ist das ein Beweis? Die AfD argumentiert zudem: Hätte Kalbitz eine frühere Mitgliedschaft in einer extremistischen Organisation angegeben, dann hätte sich ja der Bundesvorstand mit seinem Aufnahmeantrag befassen müssen, aber das sei nicht passiert.
In den vergangenen Wochen lagen die gegnerischen Lager in der AfD in ihren Schützengräben. Aus „Flügel“-Kreisen heißt es, dass es sich in dem Streit um Kalbitz in Wahrheit um einen Stellvertreterkrieg handele. Da gehe es einerseits um inhaltliche Richtungsentscheidungen wie den Kurs in der sozialen Frage. Andererseits schon jetzt um die Listenaufstellungen und die Spitzenkandidatur bei der Bundestagswahl. Nicht wenige in der AfD glauben, dass es entweder auf das Duo Meuthen und Storch hinauslaufen wird oder auf Weidel mit Chrupalla. AfD-Übervater Gauland ist ebenfalls noch nicht ganz aus dem Spiel.
„Einheit“ - das heißt, der „Flügel“ ist dabei
Besuch bei Parteichef Chrupalla Ende Mai. Der sächsische Malermeister sitzt am Schreibtisch in seinem Bundestagsbüro. Hinter ihm hängt sein Meisterbrief an der Wand. Gegenüber eine weiße Tafel, an der kleine Magneten mit den Gesichtern und Namen aller Fraktionsmitglieder kleben. Schiebt er die hin und her, um zu sehen, wofür es Mehrheiten in der Fraktion gibt? Chrupalla lächelt nur.
Man merkt ihm an, dass er es seinem Co-Parteichef Meuthen übelnimmt, wie er ihn bei der Kalbitz-Entscheidung düpiert hat. Chrupalla ist seit Ende des vergangenen Jahres Parteichef, er galt als Wunschkandidat des „Flügels“ und soll den Osten an der Parteispitze repräsentieren. Doch bislang stand meist Meuthen im Rampenlicht. Einige in der Partei bezweifeln, dass Chrupalla das Format für den Parteivorsitz hat. Jetzt im Machtkampf kann er sich aber als einer profilieren, der für die Einheit der Partei steht. Und Einheit heißt in der Sprache der AfD, dass auch der rechtsextreme „Flügel“ einen Platz in der Partei hat.
Chrupalla sagt, er könne in der Arbeit, die Kalbitz für die AfD gemacht habe, nichts Rechtsextremes erkennen. „Selbst wenn wir alles machen, was der Verfassungsschutz von uns will, könnten wir der Beobachtung nicht entkommen. Sie ist politisch gewollt“, meint er.
Im „Flügel“-Netzwerk wurde der Gegenschlag vorbereitet
Es ist die neue Bruchlinie in der AfD: Wie stark soll sich die AfD bemühen, eine Gesamtbeobachtung durch den Verfassungsschutz zu verhindern? Viele im Osten sehen es wie Chrupalla – sie glauben, dass die AfD schlicht so weitermachen soll wie bisher. Im Westen ist die Zahl derer größer, die glauben, dass man zumindest dem Anschein nach eine Abgrenzung nach Rechtsaußen hinbekommen muss.
In den vergangenen Wochen frohlockte man schon im Meuthen-Lager, dass der Ex-„Flügel“ auffällig still sei. Doch der Schein trog womöglich. Im „Flügel“-Netzwerk wurde bereits der Gegenschlag vorbereitet – und Kalbitz arbeitete an seinem Comeback. Seine Fraktion im Potsdamer Landtag hatte schon kurz nach seinem Rauswurf entschieden, dass er Fraktionsmitglied bleiben darf und dafür eigens die Geschäftsordnung geändert. Kalbitz trat auf AfD-Veranstaltungen im Osten auf, in Prenzlau und Sebnitz – auch dort interessierte es niemanden, dass er gerade nicht AfD-Mitglied war. Kalbitz ging zudem vor dem AfD-Bundesschiedsgericht gegen seinen Rauswurf vor, und klagte auch im Eilverfahren vor dem Berliner Landgericht. Beraten ließ er sich dabei auch von Juristen aus der AfD – unter anderem dem früheren leitenden Oberstaatsanwalt Roman Reusch. Der sagte dem Tagesspiegel, dass er den Rauswurf Kalbitz juristisch und politisch für dilettantisch halte.
Am Ende geht es um Formalien
Am Freitag dann: Tag der Entscheidung, Verhandlung vor dem Landgericht Berlin. Weder Kalbitz noch ein AfD-Vorstand sind erschienen. Es ist ein sonderbares Schauspiel, das sich im Gerichtsaal 145a bietet, einem großen Raum mit hellgrünen Wänden und aufwändiger Stuckverzierung. Da ist auf der einen Seite Kalbitz’ Anwalt Andreas Schoemaker, ein gemütlich wirkender Typ mit einem Schmiss auf der Wange. Auf der anderen Seite für die AfD der bekannte Jurist Joachim Steinhöfel – Glatze, großes Selbstbewusstsein. Steinhöfel argumentiert, Kalbitz habe sich die Mitgliedschaft in der AfD erschlichen. Der Anwalt wird nicht müde zu betonen, dass die HDJ, bei der Kalbitz Mitglied gewesen sein soll, den Nationalsozialismus wieder habe einführen wollen und der Waffen-SS die Treue hielt.
Schoemaker und Steinhöfel beharken sich über eine Stunde. Doch am Ende ist es der Verweis von Kalbitz’ Anwalt Schoemaker auf Paragraph 10 des Parteiengesetzes, der den Ausschlag gibt. Die AfD habe das darin vorgeschriebene Verfahren nicht beachtet, findet auch die Richterin. Ex-Fallschirmjäger Kalbitz darf so lange weiter AfD-Mitglied sein, bis das AfD-Bundesschiedsgericht über seinen Fall entschieden hat. Es sind formale Fragen, die hier zählen – und nicht die Klärung von Kalbitz’ Vergangenheit. Trotzdem ist der Sieg wichtig für Kalbitz. Jetzt kann er seinen Platz wieder einnehmen.
Auf der Bühne in Senftenberg geht Kalbitz zum Angriff über – auch wenn er Meuthen nicht namentlich nennt. „Alles was wir sind, das sind wir gemeinsam“, dröhnt er. „Und das ist auch eine Nachricht in die Partei: Wer glaubt, Applaus vom politischen Gegner zu bekommen, wenn er den Job des Verfassungsschutzes macht, der hat sich geschnitten.“ Weil die Lautsprecher auf dem Platz zeitversetzt ausspielen, klingt es, als ob Kalbitz' Stimme mit Echo über den dunstigen Marktplatz hallt. Die Menge applaudiert.
Attacken gegen Meuthen
Meuthen bekommt die Rache seiner Gegner schon am nächsten Tag zu spüren. Da findet in Sachsen ein Parteikonvent statt – das wichtigste Gremium der Partei zwischen den Parteitagen. Es gibt einen Antrag, der ihm „unverantwortliche Spaltungsversuche“ vorwirft und personelle Konsequenzen fordert. Der Antrag wird nur knapp abgelehnt.
Und Meuthens Gegner versuchen, die Spendenaffäre des Parteichefs wieder in den Fokus zu rücken. Am Wochenende sorgt eine eidesstattliche Versicherung von Meuthens früherem Wahlkampfmanager Ralf Özkara für Wirbel, die auch dem Tagesspiegel vorliegt. Özkara behauptet, Meuthen sei 2016 bewusst gewesen, dass die Unterstützung durch die Schweizer Goal AG rechtlich zweifelhaft war. Meuthen bestreitet das. Aber es dürfte nicht die letzte Attacke gewesen sein.
Noch haben Meuthens Gegner keine Mehrheit im Bundesvorstand und auch keine Zweidrittel-Mehrheit auf einem Parteitag, um Meuthen abzuwählen. Aber sollte das AfD-Bundesschiedsgericht den Rauswurf von Kalbitz als unzulässig beurteilen, dann dürfte es eng werden.
Kalbitz bleibt nach seinem Auftritt in Senftenberg noch eine Weile auf dem Marktplatz. Anhänger scharen sich um ihn. Ein Kamerateam hat noch Fragen. Was denn jetzt mit denen sei, die das Ganze losgetreten hätten? „Natürlich werden diejenigen sehen, was sie davon haben“, sagt Kalbitz ruhig. „Abgerechnet wird immer am Schluss.“