Nach dem Machtwechsel: Wer führt die Ukraine in die Zukunft?
Die Ukraine räumt auf. Die Opposition hat Präsident Janukowitsch abgesetzt. Doch wer wird das Land nun führen?
Auch am Sonntag veränderte sich die Ukraine weiter: Nach der Freilassung von Julia Timoschenko und der Absetzung von Präsident Viktor Janukowitsch, hat das ukrainische Parlament mit Alexander Turtschinow einen neuen Übergangspräsidenten benannt. Auch andere Politiker laufen sich warm für die Neuwahlen im Mai.
Wer übernimmt gerade die Macht in der Ukraine?
Die Macht werden sich die Politiker in der Ukraine teilen müssen. Nach vier Jahren der Alleinherrschaft von Viktor Janukowitsch ist das Land politisch und wirtschaftlich am Ende. Julia Timoschenko ist die aussichtsreichste Kandidatin auf den Präsidentenposten. Doch wer auch immer die Wahl im Mai gewinnt, wäre gut beraten, ein Team zusammenzustellen, das aus Fachpolitikern und Vertretern des Maidan besteht. Keinesfalls sollte ein Fiasko wie nach der Orangenen Revolution riskiert werden. Damals wurde eine Regierung mit zwei Führern gebildet, das ging schief, weil sich Regierungschefin Julia Timoschenko und Präsident Viktor Juschtschenko gegenseitig bekämpften. Die Ukraine kann es sich aber auch nicht leisten, weitere fünf Jahre von einem Alleinherrscher regiert zu werden.
Wird die Ukraine künftig wieder von den Gesichtern der Orangenen Revolution regiert?
Die neue Regierung wird anders aussehen als nach der Orangenen Revolution. Zum einen sind neue Leute nachgewachsen, zum anderen, sind mit den Parteien Udar und Swoboda neue Spieler hinzugekommen. Auch Janukowitschs Partei der Regionen muss in irgendeiner Art beteiligt werden. Bei den Präsidentschaftswahlen wird es zahlreiche Bewerber geben. Welche beiden es in die zweite Runde schaffen, ist unklar. Julia Timoschenko hat gute Chancen, wenn es ihr gelingt, im Wahlkampf den richtigen Ton zu finden. Wie alle anderen Kandidaten auch, muss sie die Wähler in der West- und der Ostukraine gewinnen. Die Menschen auf dem Maidan haben für eine europäisch orientierte Regierung gekämpft und erwarten konkrete Ergebnisse: die Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens, wirtschaftlichen Aufstieg und Rechtssicherheit, ein Ende der Korruption.
Was macht Vitali Klitschko?
Als Timoschenko am Samstagabend auf dem Maidan ihre Rede hielt, war Klitschko nicht anwesend. Und auch bei den bisherigen Posten ist seine Udar-Partei nicht berücksichtigt worden. Klitschko ist ein Politik-Neuling, westliche Medien zeichneten zu Beginn der Maidan-Proteste oft das Bild des neuen Politikers. Diese, viel zu hohen Erwartungen konnte Klitschko nicht erfüllen. Seine Partei und er bilden nicht immer eine Einheit, eine Reihe der Udar-Parlamentarier waren früher Mitglieder der Partei des pro-westlichen Präsidenten Juschtschenko, „Unsere Ukraine“. Als sich diese auflöste, wechselten etliche ins Udar-Lager gewechselt.
Das war bei den Parlamentswahlen 2012 ein Erfolgsgarant für die junge Partei Klitschkos, heute muss das nicht mehr von Vorteil sein. Offenbar will sich Klitschko komplett auf die Präsidentschaftswahlen Ende Mai konzentrieren und sich nicht in einer Übergangsregierung aufreiben lassen. Es ist kein Geheimnis, dass sich die drei Führer der Oppositionsparteien im Parlament, Klitschko, Arsenij Jazenjuk (Vaterland) und Oleg Tjanibok (Swoboda) gegenseitig misstrauen.
Wie groß wird die Rolle der rechten Kräfte der Swoboda-Partei sein?
Die Swoboda-Partei war fast zwanzig Jahre eine Splitter- und Regionalpartei in der Westukraine. Mit den Wahlerfolgen auf kommunaler Ebene im Frühjahr 2008 und dem erstmaligen Einzug ins Parlament 2012 errang sie landesweite Aufmerksamkeit. International machten antisemitische Äußerungen einiger Swoboda-Leute den Eindruck, die gesamte Partei sei ultrarechts. Es gibt in der Partei aber verschiedene Strömungen. Unklar ist, wie sie sich weiterentwickeln wird. 2012 fanden sich unter den Swoboda-Wählern reihenweise Protestwähler, die bis dahin die Parteien von Juschtschenko oder Timoschenko gewählt hatten. Die Rolle der Partei auf dem Maidan ist nicht zu unterschätzen. Die Swoboda wird demnach höchstwahrscheinlich in die neue Regierung eingebunden werden.
Wie groß ist die Gefahr einer Spaltung?
Diese Frage wird vor allem im Westen und in Russland debattiert. In der Ukraine selbst hat die Mehrheit der Menschen und alle wichtigen Parteien kein Interesse an der Spaltung des Landes. Die Ausrufung der Autonomie in Lwiw galt als Protest gegen Präsident Janukowitsch. Der Bürgermeister Lwiws, Andrej Sadowij, ist ein unabhängiger Kandidat und kein Extremist. Im Gegenteil, er hat sich seit Jahren um die Westanbindung seiner Region gekümmert. Der Osten des Landes galt bisher als Hochburg der Janukowitsch-Unterstützer, allerdings haben sich auch dort viele von ihm abgewandt. Eine Sonderrolle nimmt die Krim ein, wo auch die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist. Dort demonstrierten etwa 2000 russlandtreue Ukrainer am Sonntag und beschimpften die bisherige Opposition als „Faschisten“.
Was wird aus Janukowitsch?
Die Rücktrittsverweigerung des abgesetzten Präsidenten muss als Ablenkungsmanöver betrachtet werden. Spätestens nach den vielen Toten am vergangenen Donnerstag muss Janukowitsch klar gewesen sein, dass er sich nicht im Amt halten kann. Es gibt Videoaufnahmen, die zeigen, dass in der Nacht von Donnerstag auf Freitag Wertgegenstände aus den Privathäusern und dem Dienstsitz von Janukowitsch abtransportiert wurden.
Derzeit gibt es nur Gerüchte über den Verbleib von Viktor Janukowitsch und seiner Familie. Samstagnacht meldeten ukrainische Medien, der Ex-Präsident sei auf dem Flughafen von Donezk an der Ausreise gehindert worden. Er soll daraufhin in einer Limousine weggefahren sein. Wo sich Janukowitsch momentan aufhält, ob er auf anderem Weg das Land verlassen hat, ist nicht bekannt.
Nina Jeglinski