Neuordnung der Macht in Kiew: Turtschinow - vom Parlamentschef zum Übergangspräsidenten
In der Ukraine sitzen die Gegner des abgesetzten Präsidenten Janukowitsch jetzt an den Schalthebeln der Macht. Das Parlament hat nun ihren Vorsitzenden Alexander Turtschinow zum Übergangspräsidenten gemacht. Das gesamte politische System steht auf dem Prüfstand.
Nach dem Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch besetzen die neuen Machthaber in Kiew mit Volldampf die wichtigsten Posten in der krisengeschüttelten Ukraine. Das Parlament bestimmte am Sonntag seinen neuen Chef Alexander Turtschinow zugleich zum Übergangspräsidenten. Die Abgeordneten votierten dafür, dem Vertrauten von Oppositionsführerin Julia Timoschenko vorübergehend die Vollmachten des Staatschefs zu übertragen. Die Ex-Regierungschefin war am Vortag nach rund zweieinhalb Jahren aus ihrer umstrittenen Haft entlassen worden.
Bundeskanzlerin Angela Merkel gratulierte Timoschenko in einem Telefonat zu ihrer Freilassung. Die CDU-Chefin halte die Rückkehr der 53-Jährigen in die Politik für einen der wichtigsten Faktoren zur Stabilisierung der Lage in der Ex-Sowjetrepublik, teilte Timoschenkos Vaterlandspartei (Batkiwschtschina) am Sonntag mit.
Das Parlament hatte bereits Präsidentenwahlen für den 25. Mai angesetzt. Dann will auch Timoschenko kandidieren. Der Oppositionspolitiker Vitali Klitschko hatte schon vor Monaten seine Bewerbung angekündigt. Der abgesetzte Staatschef Janukowitsch hat jedoch bisher nicht seinen Rücktritt erklärt. Unklar war weiter, wo sich der 63-Jährige derzeit aufhält.
Mindestens 82 Tote
Turtschinow rief die Parlamentarier dazu auf, sich bis Dienstag auf ein „Kabinett des nationalen Vertrauens“ sowie eine Koalition zu einigen. Timoschenko teilte mit, sie werde sich nicht um das Amt der Regierungschefin bewerben. Ein Kandidat ist ihr Fraktionschef Arseni Jazenjuk.
Die in Haft erkrankte Timoschenko hielt am Samstagabend - nur Stunden nach ihrer Freilassung - eine emotionale Rede vor mehr als 100 000 Menschen auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) in Kiew. Sie saß dabei im Rollstuhl.
Der kommissarische Innenminister Arsen Awakow teilte mit, 64 bei Protesten festgenommene Regierungsgegner seien auf freien Fuß gesetzt worden. Zudem habe er interne Ermittlungen wegen Amtsmissbrauchs gegen 30 Mitglieder seiner Behörde einleiten lassen, sagte Awakow. Dabei gehe es um ihre Rolle bei den blutigen Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Regierungsgegnern in Kiew, bei denen seit Dienstag mindestens 82 Menschen getötet worden waren.
Der bisherige Regierungschef Nikolai Asarow war Ende Januar auf Druck der Opposition zurückgetreten. Seine Minister waren seither nur noch kommissarisch im Amt. Sie wurden am Sonntag offiziell vom Parlament gefeuert. Die Regierungsgegner hatten in der Nacht zu Samstag die Kontrolle in Kiew übernommen. Die bisherige Regierungspartei machte Januowitsch und seine engsten Vertrauten in einer Mitteilung persönlich für die Lage im Land verantwortlich.
Auch Russland hofft auf Stabilität
Nach der Rückkehr Timoschenkos gibt es auch in Russland Hoffnung auf eine stabilere Lage im Nachbarland. Die erfahrene Politikerin könnte die Situation in Kiew beruhigen helfen, sagte der einflussreiche Abgeordnete Leonid Sluzki in Moskau. Dem Westen werde es nicht gelingen, die „Brudervölker zu entzweien“, betonte er.
Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen forderte angesichts der politischen Neuordnung in der Ukraine die Menschen dazu auf, nun friedlich die Zukunft ihres Landes zu bestimmen. Übergangspräsident Turtschinow sagte, die wirtschaftliche Lage der Ukraine sei „katastrophal“. Der Internationale Währungsfonds IWF zeigte sich bereit, das nahezu bankrotte Land zu unterstützen. „Wenn die ukrainischen Behörden sich an den IWF wenden, sei es mit der Bitte um Beratung, sei es wegen Diskussionen über finanzielle Hilfen, gekoppelt an Wirtschaftsreformen, stehen wir selbstverständlich bereit“, sagte IWF-Chefin Christine Lagarde in Sydney beim Treffen der G20-Finanzminister. Nötig seien aber legitimierte Gesprächspartner.
Auf frisches Geld aus Russland muss die Ukraine hingegen weiter warten. Der russische Finanzminister Anton Siluanow bekräftigte einmal mehr, dass Moskau zunächst die Regierungsbildung abwarten wolle, bis es von Kremlchef Wladimir Putin zugesagte Milliardenhilfen weiter auszahle.
Janukowitsch hatte Ende November auf Druck Russlands ein historisches Abkommen mit der EU über engere Zusammenarbeit auf Eis gelegt - der Auslöser für die Proteste, die schließlich zu seinem Sturz führten. (dpa)