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First come first served? In dieser Pandemie ist das keine gute Idee.
© imago images/Becker&Bredel

Impfpriorisierung: Wer ein Ziel hat, darf den Weg nicht scheuen

Die Regelung der Impfreihenfolge verlangt nach einer breiten gesellschaftlichen und parlamentarischen Debatte. Ein Gastbeitrag.

Steffen Augsberg ist Professor für Öffentliches Recht in Gießen und Mitglied des Deutschen Ethikrates. Peter Dabrock ist Professor für Systematische Theologie (Ethik) in Erlangen/Nürnberg und war von 2016-2020 Vorsitzender des Deutschen Ethikrates.

Die Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko), den Covid-19-Impfstoff von AstraZeneca nur für unter 65-Jährige einzusetzen, hat aufhorchen lassen. Die arzneimittelrechtliche Zulassung enthält zwar keine entsprechende Begrenzung. Doch die Einschätzung deutet darauf hin, dass zwischen den verfügbaren und künftigen Impfmitteln folgenreiche Unterschiede bestehen.

Das wirft Fragen zur universellen Einsetzbarkeit der Impfstoffe auf. Beispielsweise, inwieweit Freiheitseinschränkungen gegenüber Geimpften aufrechterhalten bleiben dürfen. Hierfür spielt eine große Rolle, wie sich die Impfung auf die Ansteckungsfähigkeit auswirkt. Sollte letztere je nach Impfstoff unterschiedlich reduziert sein, dann wäre die fehlende Auswahlmöglichkeit nicht nur ein Gesundheits-, sondern ein eklatantes Freiheitsproblem.

Prioritär zu impfen sind neben medizinisch und pflegerisch Tätigen bisher diejenigen, bei denen das Risiko eines schweren oder sogar tödlichen Verlaufs der Erkrankung besonders hoch ist. Das sind vor allem Personen höheren Alters. Wenn indes gerade bei ihnen ein Impfstoff ausfällt, dann bedeutet das auch, dass für an sich nachrangig zu bedienende Personen unter 65 Jahren auf einmal schnellere Impfmöglichkeiten bestehen könnten.

Keine überzeugenden Verteilungsregeln

Für die Verteilung innerhalb dieser Gruppen liegt bislang keine durchgehend überzeugenden Verteilungsregeln vor; erst recht fehlen diese für die breite Bevölkerung. Die Coronavirus-Impfverordnung des Bundesgesundheitsministeriums unterscheidet zwischen höchster, hoher und erhöhter Priorität. Dementsprechend wären zunächst Personen zu impfen, die aufgrund von Vorerkrankungen, besonderer beruflicher Kontakte selbst besonders gefährdet sind oder andere gefährden.

Jenseits dieser Gruppen der ersten und zweiten Prioritätsstufe wird es heikel. Schon die dritte Gruppe umfasst einen breiten Bereich. Explizit genannt werden die Tätigkeit „in besonders relevanter Position in staatlichen Einrichtungen“, „in besonders relevanter Position in der Kritischen Infrastruktur“, in medizinischen Einrichtungen jenseits der Versorgung von Covid-19-Patienten, im Lebensmitteleinzelhandel, als „Erzieher oder Lehrer“ sowie mit „prekären Arbeits- oder Lebensbedingungen“.

Diese Aufzählung wirkt teilweise wie auf Zuruf zusammengestellt, und täglich werden neue Ansprüche angemeldet: jüngst KITA-Erzieher:innen, Lehrer:innen für Kinder mit Behinderungen. Die Grobrasterigkeit lädt zudem zu Missbrauch ein. Schnell ist da mal eine Impfcharge nicht verimpft – und der nächste Bürgermeister wird mit Vorgänger samt Frau einbezogen.

Deshalb bedarf es hier der Nachsteuerung, und vor allem sind zusätzliche Regelungen geboten, wie die Impfungen jenseits der jetzigen Priorisierungsgruppen vorzunehmen sind. Fantasielos darauf zu hoffen, dass sich die Menschen in Geduld und Solidarität bescheiden mögen, ist bei einer Gruppe von rund 45 Millionen Personen, die nach den ersten priorisierten Gruppen an der Reihe sind, nicht nur realitätsfern, sondern zynisch. „First come first served“ kann bei gleichem Anspruch auf ein gegebenenfalls lebensrettendes Medikament nicht gerecht sein.

Auf die Zahl der Berufskontakte kommt es an

So leuchtet es zwar ein, gesellschaftlich unverzichtbare Dienste besonders zu schützen. Zu klären wäre aber, ob nicht alternative Schutzmaßnahmen greifen. In jedem Fall bestehen Bedenken gegenüber einer allzu schlichten Orientierung am Kriterium der „Systemrelevanz“. Besser wäre es, die Impfreihenfolge daran auszurichten, inwieweit mit einer bestimmten Berufsausübung zwangsläufig eine erhöhte Zahl regelmäßiger Kontakte mit einem wechselnden Personenkreis einhergeht – und ob die Möglichkeit zu effektiven Selbstschutzmöglichkeiten gegeben ist.

Je weniger Kontakte bestehen, desto geringer wäre die Impfpriorität: Die Supermarktkassiererin wäre damit vor dem Müllwerker dran, der Erzieher und die Lehrerin vor der Hochschulprofessorin. Nachdenken müssen wir aber auch darüber, wie zu verfahren ist, wenn eine plausible, verfassungsnormativen wie gerechtigkeitstheoretischen Debattenstandards genügende Reihenfolge nicht mehr möglich ist.

Hier ist namentlich zu überlegen, ob auch zufallsbasierte Mechanismen, etwa Losverfahren, akzeptabel sein können. In jedem Fall muss für das Ansinnen der Impfwilligen, selbst rasch berücksichtigt zu werden, ein fairer prozeduraler Weg gefunden werden. Alternativlos ist kein Vorschlag. Der Vergleich mit anderen Ländern zeigt dies anschaulich. Gerade weil unterschiedliche Wege bestehen, ist es so wichtig, diese grundrechts- und gesellschaftsrelevanten Fragen nicht weitgehend außerhalb der Parlamente zu verhandeln.

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Ineffektiver wird die Impfprozedur dadurch nicht, aber sie erhält eine breitere Legitimations- wie Rechenschaftsbasis. Weder vorgelagerte, politisch selbst nicht verantwortliche Expertengremien noch exekutive Stellen sind berufen, diese Entscheidungen für uns alle zu treffen.

Vielmehr sind sowohl die Verteilungskriterien als auch ihre Gewichtung und ihr Verhältnis zueinander im Parlament transparent und öffentlichkeitswirksam zu erörtern und zumindest dem Grunde nach gesetzlich zu fixieren.

Steffen Augsberg, Peter Dabrock

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