Alternative zum Spahn-Konzept: Geänderte Impfreihenfolge könnte tausende Corona-Tote verhindern
Bei der Impfkampagne zählt jeder Tag. Laut einem Konzept der Barmer Krankenkasse könnte noch viel mehr Menschen das Leben gerettet werden.
Um den Tod unzähliger Menschen mit Vorerkrankungen durch Covid-19 zu verhindern, sollte Deutschland bei der Impfpriorisierung auf Versichertendaten der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) zurückgreifen. Dafür plädiert die Barmer, also die mit neun Millionen Versicherte zweitgrößte GKV in Deutschland, in einem Konzept, das vom Barmer Institut für Gesundheitssystemforschung (bifg) erarbeitet hat.
Das Modell würde eine Priorisierung innerhalb der großen Gruppe von Menschen mit Vorerkrankungen ermöglichen und jenen Vorrang einräumen, bei denen die Daten der vergangenen beiden Jahre zeigen, dass sie häufiger schwer an Covid-19 erkranken oder daran sterben.
Die am 15. Dezember erlassene Impfverordnung des Bundesgesundheitsministeriums (BMG - hier als PDF) geht maßgeblich auf die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission, des Ethikrats und der Leopoldina zurück. Menschen der ersten Priorität – also etwa über 80-Jährige, Bewohner in Pflegeheimen und Mitarbeiter auf Intensiv- oder Coronastationen – werden derzeit geimpft.
Später folgen dann Angehörige der zweiten Prioritätsstufe, zu denen unter anderem Menschen mit in der Verordnung aufgeführten Vorerkrankungen gehören: Also solche mit Trisomie 21, mit Demenz beziehungsweise einer geistigen Behinderung oder mit einem transplantierten Organ. In der dritten Priorisierungsstufe werden dann zehn konkrete Erkrankungen und Erkrankungsfelder aufgeführt, die Betroffenen eine erhöhte Impfpriorität verleihen.
Bis zu 15 Millionen Deutsche mit Vorerkrankung
Die Probleme dabei: Die Definition der Gruppen erfolgte auf dünner Datenlage, so dass nicht klar ist, welche Vorerkrankten besonders schnell eine Impfung erhalten sollten. Es fehlt also eine Priorisierung innerhalb der Priorisierung. Laut bifg umfasst die Gruppe der in der Verordnung aufgeführten Menschen mit Vorerkrankungen schätzungsweise 10 bis 15 Millionen Deutsche.
„Ohne Daten zu Vorerkrankungen kann der Einfluss auf das Risiko für Covid-19-Erkrankte nur schwer abgeschätzt werden“, sagt Barmer-Chef Christoph Straub. Auch bifg-Geschäftsführer Uwe Repschläger spricht von einer „schlechten Studienlage“, zumal bei vielen Untersuchungen spezifische nationale Faktoren hineinspielten, die in Deutschland nicht zwingend zum Tragen kommen.
[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Pandemie live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Um einen valideren Überblick zu bekommen, welche Krankheitsbilder das Risiko erhöhen, schwer an Covid-19 zu erkranken oder daran zu versterben, glich das bifg Daten von Barmer-Versicherten ab.
Bei den Versicherten, die 2020 positiv auf Corona getestet wurden, schaute man auf die 2019 vermerkten Vorerkrankungen und berechnete daraufhin die Korrelationen. Grundlage für die Identifikation von Erkrankungen war das Vollmodell des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs, aus dem Krankheiten und Diagnosen gefiltert wurden, für die sich ein Zusammenhang mit schweren Covid-Verläufen ermitteln ließ.
Die Daten bestätigen zunächst einmal die in der Verordnung festgelegte hohe Priorisierung von Menschen mit Trisomie 21. Trisomie-Erkrankte haben laut den Barmer-Daten nämlich ein 5,7-fach erhöhtes Risiko, an Covid zu sterben, und ein doppelt so großes, ins Krankenhaus zu kommen beziehungsweise dort beatmet zu werden – das ist der Spitzenwert in der vom bifg berechneten Tabelle.
Fast die gleichen Werte wurden bei Menschen mit degenerativen Hirnerkrankungen gezählt, zu denen die laut Verordnung ebenfalls zur zweite Priorisierungsstufe gehörenden Menschen mit Demenz gehören. Menschen mit Lungenmetastasen folgen laut bifg-Berechnungen mit einem 3,8-fach erhöhtem Sterberisiko an dritter Stelle, in der Verordnung sind diese erst in der dritten Priorisierungsstufe aufgenommen.
[Mehr zum Thema: Der Corona-Impfrechner vom Tagesspiegel – wann bin ich mit der Impfung dran und wie viele sind schon geimpft?]
Besonders auffällig: Unter den ersten zehn Diagnosen, die laut Barmer mit einem erhöhtem Sterberisiko einhergehen, finden sich an fünfter Stelle psychische (2,8-faches Risiko) und schwere neurologische Erkrankungen (2,2-fach erhöht). Betroffene sind in der Verordnung des BMG nicht priorisiert, obwohl viele ambulante und auch stationäre Versorgungsformen in der Corona-Pandemie weitgehend lahmgelegt wurden.
Drastische Reduzierung der Todesfälle
Das bifg hat in seinen Berechnungen auch überschlagen, wie viele Menschenleben gerettet werden könnten, würde man das von ihnen vorgeschlagene Modell übernehmen – Menschen über 80 und Bewohner:innen von Pflegeheimen wurden dabei herausgerechnet, da diese sowieso bereits geimpft werden.
Als Basisannahme diente dem bifg die Modellannahme, dass ab Priorisierungsstufe 2 eine Million Menschen pro Woche geimpft werden, und zwar nach dem Zufallsprinzip, also gänzlich ohne Berücksichtigung von Priorisierungen.
- Die aktuell geltende Verordnung, so das bifg, sorgt dabei in den ersten zehn Impftagen für eine Reduzierung der Todesrate um zehn Prozent – würde man den bifg-Vorschlag umsetzen, wären es hingegen 45 Prozent.
- Nach hundert Impftagen, also im Frühsommer, wäre eine Reduzierung der Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 um 90 Prozent zu erwarten – bei der jetzigen Vorgehensweise würden nur 73 Prozent erreicht, so das Institut.
Die notwendigen Daten für eine Priorisierung innerhalb der Priorisierung lägen bei den Kassen vor, betonte Barmer-Chef Straub. Er habe darüber auch schon Gespräche mit dem BMG geführt und sei für weitere offen – auch andere Kassen seien eingeladen, die zur Verfügung gestellten Rechenmodelle für ihre Versicherten zu nutzen, sie würden jetzt als Open Source veröffentlicht.
Wie die Vorarbeiten allerdings in ein Einladungswesen für die zu priorisierenden Menschen mit Vorerkrankungen umgesetzt werden könnte, das liege in der Hand der für die Impfungen zuständigen Länder, betonte Straub. „Wir können unsere Hilfe nur anbieten“, so der Barmer-Chef.
Auch datenschutzrechtliche Belange müssten dabei berücksichtigt werden, ergänzte bifg-Chef Repschläger. „Sollten sich Änderungen an der Impfverordnung ergeben, wird der Bundesdatenschutzbeauftragte diese nach datenschutzrechtlichen Aspekten prüfen“, erklärte dazu auf Anfrage gestern das Büro von Ulrich Kelber – das BMG äußerte sich nicht.