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Mesut Özil im Jahr 2010 nach seinem Treffer zum 2:0 im EM-Qualifikationsspiel gegen die Türkei..
© Hannibal / picture alliance / dpa

Nach dem Rücktritt von Mesut Özil: Wer deutsch ist - und wenn ja, wie viele

Deutsch, islamisch, türkisch: Das geht zusammen. Die Zeiten, in denen aus Mehrfachidentitäten die Unmöglichkeit abgeleitet wurde, einem „Volkskörper“ anzugehören, sind vorbei. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Wie oft noch? Sich die Haare raufen, angewidert sein von Borniertheit, das Immergleiche zum immergleichen Thema sagen – wie oft noch? Zu verstehen, dass Menschen komplexe Wesen mit komplexen Gefühlen sind, kann doch eigentlich nicht schwer sein. Also gut, dann trotzdem erneut: Deutsch, islamisch, türkisch: Das geht zusammen. Amerikanisch, katholisch, irisch: Das geht zusammen. Eritreisch, christlich, deutsch: Das geht zusammen. Es geht alles zusammen. Die Zeiten, in denen aus Mehrfachidentitäten die prinzipielle Unmöglichkeit abgeleitet wurde, einem „Volkskörper“ anzugehören, sind vorbei. Endgültig. Unwiderruflich. Hoffentlich.

Es gibt Amerikaner im US-Bundesstaat Wisconsin, deren Vorfahren aus Deutschland stammen und die sich heute in Schuhplattlervereinen organisieren. Es gibt Amerikaner, deren Vorfahren aus Irland stammen und die bis heute jedes Jahr den St.-Patrick’s-Day feiern. Es gibt seit 1935 die „Israel Nachrichten“, eine deutschsprachige Zeitung, die in Jerusalem gemacht wird. Es gab Ignatz Bubis, den ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, ein Deutscher und Jude durch und durch, der in Israel bestattet werden wollte. Es gibt Christen, die jedes Jahr ihrer weltweit verfolgten Schwestern und Brüder gedenken, über Landesgrenzen hinweg, getreu der Aufforderung des Apostel Paulus: „Lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.“

Na und? Die meisten Menschen, die von irgendwoher kommen, fühlen Sowohl-als-auch, nicht Entweder-oder. Erleichtert wird das durch die moderne Technik. Egal, wie man sie nennt, ob Migranten, Flüchtlinge, Schutzsuchende oder Neuankömmlinge: Per Skype und Facebook bleiben sie oft eng mit der alten Heimat verbunden, per Satellitenfernsehen und Internet bricht der Kontakt zum Herkunftsland nie ab. Sie lernen die neue Sprache, die Regeln und Gesetze, aber ihre Vergangenheit abstreifen wie Staub von der Kleidung können und wollen sie nicht. Ihre Religion, Kultur und Tradition ist ein Teil von ihnen, angewachsen so fest wie ein Körperteil.

„Heimat gibt es auch im Plural“

Sowohl als auch: Das erinnert an die Kraft der zwei Herzen aus der „Doppelherz“-Reklame. Und es erinnert an die Aussage von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, kurz nach seinem Treffen mit Mesut Özil: „Heimat gibt es auch im Plural.“ Dass Özils Posing mit Recep Tayyip Erdogan falsch war, steht außer Frage. Aber Steinmeier bemühte sich wenigstens, die Beweggründe des Fußballers zu verstehen. War es Perfidie, Naivität, ein schlichtes Verbundenheitsgefühl mit dem Staatsoberhaupt der Türkei?

„Ich bin in Deutschland aufgewachsen“, schreibt Özil in seiner Rücktrittserklärung von der Nationalmannschaft. „Meine familiären Wurzeln aber liegen in der Türkei. Ich habe zwei Herzen, ein deutsches und ein türkisches. Während meiner Kindheit hat mich meine Mutter gelehrt, immer respektvoll zu sein und nie zu vergessen, wo ich herkomme. Über diese Werte denke ich bis heute nach.“ Sich in der neuen Heimat der alten weiter verbunden zu fühlen, gilt als Etwas, woran Konservative eigentlich Gefallen finden müssten. Man denke nur an die Vertriebenenverbände. Dass ausgerechnet sie es sind, die sich nun am fiesesten über Özils „Jammerei“ mokieren, deutet auf eine moralische Verkommenheit des deutschen Konservativismus hin.

Zwei Herzen: Was, verdammt, soll verkehrt daran sein? Der israelische Ministerpräsident trat im Wahlkampf vor jüdischen Organisationen in den USA auf, amerikanische Präsidentschaftskandidaten machen stets einen Abstecher nach Irland, Barack Obama ging einst auf Stimmenfang vor der Siegessäule, viele Russlanddeutsche fühlen sich Tschaikowski und Dostojewski näher als Bach und Thomas Mann, das Silicon Valley ist ohne Chinesen nicht denkbar. Bloß bei Menschen mit türkischen Wurzeln heißt es in Deutschland, sie seien zerrissen, nicht integriert, lebten in Parallelgesellschaften. Kein Wunder, dass nun einem von ihnen der Kragen geplatzt ist. Ein Wunder, dass es nicht mehr sind.

Der Neuankömmling bleibt ein freier Mensch

Wer Deutscher ist oder werden will, muss sich an die Gesetze halten. Er sollte die Sprache beherrschen und die Bräuche kennen. Anmaßend aber wäre es, bei ihm Gesinnungsschnüffelei zu betreiben oder von ihm Wertebekenntnisse einzufordern. Der Neuankömmling bleibt ein freier Mensch, in seinen Gedanken, in seinem Tun. Er muss kein Bier trinken, nicht zum Oktoberfest gehen, nicht den Karneval der Kulturen mitmachen, statt „Tagesschau“ und „Tatort“ darf er abends türkische TV-Soaps gucken, und wenn es eine Sie ist: Ob mit oder ohne Kopftuch – beides ist erlaubt.

Einer aufnahmebereiten Mehrheitsgesellschaft sollte freilich die Neugier erhalten bleiben dürfen. Wer einen jüdischen Deutschen auf sein Verhältnis zu Israel anspricht, ist nicht zwangsläufig in die Antisemitismusfalle getappt. Und wer einen dunkelhäutigen, fließend Deutsch sprechenden Taxifahrer nach seiner Herkunft fragt, ist nicht automatisch ein Rassist.

Über die Identität eines Menschen entscheiden Schicksal und Wille gemeinsam. Und Identität gibt es auch im Plural. Wie oft muss man es noch sagen?

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