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Indienweiter Streik. Bankangestellte in Amritsar protestieren gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung.
© Narinder Nanu/AFP

Was Indien und China lassen sollten: Wenn Wachstumssucht zum Problem wird

Starkes Wirtschaftswachstum bedeutet nicht mehr Lebensqualität. Die China und Indien müssen reagieren. Ein Essay der Wirtschaftsnobelpreisträger.

Abhijit Banerjee ist Professor für Ökonomie am MIT. Esther Duflo ist Professorin für Armutsbekämpfung und Entwicklungsökonomie am MIT. Sie sind nicht nur miteinander verheiratet, sonder auch gemeinsame Gründer und Ko-Direktoren des Abdul Latif Jameel Poverty Action Lab (J-PAL) am MIT und (zusammen mit Michael Kremer) Gewinner des Nobelpreises in Ökonomie des Jahres 2019. - Aus dem Englischen von Jan Doolan. Copyright: www.project-syndicate.org

Eine der besorgniserregendsten Nachrichten des Jahres 2019 erhielt von den Medien in den USA und Europa nicht die Aufmerksamkeit, die man hätte erwarten können: Der Internationale Währungsfonds, die Asiatische Entwicklungsbank und die OECD haben ihre Wachstumsprognosen für Indien für 2019-20 auf rund sechs Prozent zurückgestuft.

Dies wäre der niedrigste Wert seit Anfang des Jahrzehnts. Andere halten selbst diese Zahlen für zu optimistisch und gehen von sehr viel düsteren Narrativen aus. So hat etwa Arvind Subramanian, bis vor kurzem oberster Wirtschaftsberater der indischen Regierung, auf Basis eines Abgleichs von Daten zu verschiedenen wirtschaftlichen Kennzahlen argumentiert, dass das Wachstum bis auf 3,5 Prozent sinken könnte.

In China verlangsamt sich das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ebenfalls, von 14,2 Prozent in 2007 auf 6,6 Prozent in 2018. Der Internationale Währungsfonds prognostiziert, dass es bis 2024 auf 5,5 Prozent fallen könnte. Höchstwahrscheinlich werden dieser wirtschaftliche Abschwung in China und die möglicherweise deutliche Wachstumsverlangsamung in Indien 2020 deutlich mehr Aufmerksamkeit erregen.

Am Freitag teilte das Pekinger Statistikamt mit, dass die weitgrößte Volkswirtschaft im abgelaufenen Jahr nur noch um 6,1 Prozent zunahm - nach 6,6 Prozent im Jahr 2018. Vor dem Hintergrund des Handelskonflikts mit den USA und einer allgemein schwächeren Konjunktur ist damit Chinas Wirtschaft 2019 so langsam wie seit fast 30 Jahren nicht mehr gewachsen.

Das starke Wachstum in China und Indien hat Millionen von Menschen aus der Armut befreit, und der Abschwung dürfte den Fortschritt bei der Verbesserung des Lebens der Armen bremsen. Was sollten China und Indien tun? Oder vielmehr, was sollten sie lassen?

Bitte keine Selbstzufriedenheit

Als wir 2018 unser Buch „Good Economics for Hard Times“ schrieben – also noch bevor die schlechten Nachrichten zur Wirtschaftsentwicklung in Indien nach und nach über die Ticker liefen –, machten wir uns bereits Sorgen über einen potenziellen Abschwung in diesem Land (der Abschwung in China war bereits bekannt).

In Erwartung des Wachstumsrückgangs warnten wir: „Indien sollte Selbstzufriedenheit fürchten.“ Der Punkt, auf den wir hinwiesen, ist simpel: In China wurden wirtschaftliche Ressourcen während des Kommunismus und in Indien in der Zeit des extremen Dirigismus sehr schlecht genutzt. Ändern sich diese politischen Systeme, werden erste Fortschritte sehr schnell sichtbar – die vorhandenen Ressourcen werden nun bestmöglich verwendet.

Im Falle der indischen Industrieunternehmen etwa kam es nach 2002 zu einer deutlichen Beschleunigung der technologischen Modernisierung auf Werksebene und zu einer gewissen Umorientierung hin zu den besten Unternehmen innerhalb jeder Branche. Dies stand anscheinend nicht mit Änderungen der Wirtschaftspolitik in Verbindung und wurde als „Indiens rätselhaftes Fertigungswunder“ beschrieben.

Erklärung Generationenwechsel

Doch es war kein Wunder, sondern bloß eine bescheidene Verbesserung gegenüber einem ziemlich kläglichen Ausgangspunkt. Es sind verschiedene Gründe denkbar, warum es dazu kam. Eine Erklärung wäre ein Generationenwechsel, bei dem die Kontrolle von den Eltern auf die häufig im Ausland ausgebildeten, ehrgeizigeren und in Bezug auf Technologie und die Weltmärkte beschlageneren Kinder überging.

Oder vielleicht ermöglichte die Anhäufung bescheidener Gewinne es letztlich, für die Umstellung auf größere und bessere Fabriken zu bezahlen. Oder vielleicht spielten beide Ursachen – und noch weitere – eine Rolle. Allgemeiner ausgedrückt: Womöglich ist der Grund, warum einige Länder wie etwa China so lange so schnell wachsen können, dass sie mit einer Menge schlecht genutzter Arbeitskräfte und Ressourcen beginnen, die nutzbringender eingesetzt werden können.

Doch wenn die Wirtschaft ihre schlechtesten Fabriken und Firmen verloren und ihre schlimmsten Allokationsprobleme gelöst hat, nimmt der Spielraum für weitere Verbesserungen naturgemäß ab. Das Wachstum in Indien musste sich, genau wie das in China, verlangsamen. Und es gibt keine Garantie, dass es sich erst verlangsamen wird, wenn Indien beim Pro-Kopf-Einkommen dasselbe Niveau erreicht hat wie China. Indien könnte in derselben „Falle des mittleren Einkommens“ gefangen sein wie zuvor Malaysia, Thailand, Ägypten, Mexiko und Peru.

Japan als Warnung

Das Problem dabei ist, dass es für Länder schwierig ist, sich ihre Wachstumssucht abzugewöhnen. Es besteht die Gefahr, dass die politischen Entscheidungsträger in dem Bestreben, wieder für Wachstum zu sorgen, in wilden Aktionismus verfallen. Die jüngste Geschichte Japans sollte als nützliche Warnung dienen.

Hätte die japanische Wirtschaft das Wachstumstempo, dass sie zwischen 1963 bis 73 erzielte, aufrecht erhalten, hätte Japan die USA 1985 beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und 1998 beim allgemeinen Bruttoinlandsprodukt überholt. Was stattdessen geschah, reicht aus, einen abergläubisch werden zu lassen: 1980, in dem Jahr, in dem Ezra Vogel von der Universität Harvard sein Buch „Japan as Number One“ veröffentlichte, brach das Wachstum steil ein, und es hat sich seitdem nicht wirklich erholt. Während des gesamten Zeitraums von 1980 bis 2018 wuchs Japans reales BIP mit durchschnittlich gerade mal 0,5 Prozent jährlich.

Es gab dabei ein einfaches Problem: Die niedrige Geburtenrate und das fast vollständige Fehlen von Einwanderung hatten zur Folge, dass Japan enorm schnell alterte (und bis heute weiter altert). Die Erwerbsbevölkerung erreichte Ende der 1990er Jahre ihren höchsten Stand und ist seitdem jährlich um 0,7 Prozent gefallen (und sie wird auch weiterhin zurückgehen).

Gutes Geld, weniger gute Projekte

Zudem holte Japan nach der Katastrophe des Kriegs im Pazifik während der 1950er, 1960er und 1970er Jahre wirtschaftlich auf, da seine gut ausgebildete Bevölkerung allmählich bestmöglich eingesetzt wurde.

In den 1980er Jahren war das vorbei. In der Euphorie der 1970er und 1980er Jahre redeten sich viele Menschen (in Japan und anderswo) ein, dass Japan durch technologische Entwicklungen trotzdem ein hohes Wachstum aufrechterhalten würde, was vermutlich erklärt, warum die hohe Investitionsrate (über 30 Prozent vom BIP) während der 1980er Jahre weiterhin anhielt.

Zu viel gutes Geld jagte in der sogenannten Blasenwirtschaft der 1980er Jahre zu wenigen guten Projekten hinterher. Infolgedessen blieben die Banken letztlich auf vielen faulen Krediten sitzen, was zu der gravierenden Finanzkrise der 1990er führte. Das Wachstum kam zum Stillstand.

Am Ende des „verlorenen Jahrzehnts“ der 1990er Jahre hätten die japanischen Politiker möglicherweise langsam realisieren können, was da ablief und was sie zu verlieren hatten. Schließlich war Japan bereits eine relativ wohlhabende Volkswirtschaft mit viel weniger Ungleichheit als in den meisten westlichen Ländern, einem starken Bildungssystem und vielen wichtigen, einer Lösung harrenden Problemen, insbesondere der Frage, wie sich für seine rapide alternde Bevölkerung eine menschenwürdige Lebensqualität würde aufrechterhalten lassen. Doch die Behörden schienen nicht in der Lage, sich anzupassen: Die Wiederherstellung des Wachstums war eine Frage des Nationalstolzes.

Infrastruktur ohne offensichtlichen Zweck

Infolgedessen wetteiferten aufeinanderfolgende Regierungen darum, eine Reihe von Konjunkturpaketen zu konzipieren und gaben Billionen Dollar aus, überwiegend für Straßen, Dämme und Brücken, Infrastruktur, die keinem offensichtlichen Zweck diente.

Wie vielleicht vorhersehbar, taten diese Impulse nichts, um das Wirtschaftswachstum zu steigern, führten aber zu einer enormen Zunahme der Staatsverschuldung. 2016 lag sie bei rund 230 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt – der mit Abstand höchste Wert unter den G20-Ländern und einer der möglichen Vorboten einer massiven Schuldenkrise.

Die Lehre für die Politik in China und Indien ist klar: Sie muss akzeptieren, dass sich das Wachstum unweigerlich verlangsamen wird. Die chinesische Führung hat das erkannt und eine bewusste Anstrengung unternommen, die öffentlichen Erwartungen entsprechend zu steuern. Im Jahr 2014 sprach Präsident Xi Jinping von einer „neuen Normalität“ von sieben statt wie zuvor zehn Prozent oder mehr jährlichem Wachstum. Doch selbst diese Prognose könnte noch zu hoch sein. In der Zwischenzeit hat China enorme globale Bauprojekte in Angriff genommen, was nicht unbedingt Gutes erwarten lässt – möglicherweise versucht man doch, die japanische Strategie zu kopieren.

Der Schlüssel besteht letztlich darin, nicht aus den Augen zu verlieren, dass das BIP Mittel und nicht Zweck ist. Es ist zweifellos nützlich, besonders, wenn es Arbeitsplätze schafft, zu höheren Löhnen führt oder den Regierungshaushalt erhöht, sodass die Regierung mehr Geld umverteilen kann.

Lebensqualität ist mehr als Konsum

Das Ziel aber bleibt, die Lebensqualität des Durchschnittsbürgers – und insbesondere der Ärmsten - zu verbessern. Und Lebensqualität bedeutet mehr als nur Konsum. Den meisten Menschen ist es wichtig, sich achtbar und respektiert zu fühlen, und sie leiden, wenn sie das Gefühl haben, sich selbst und ihre Familien zu enttäuschen.

Während es bei einem besseren Leben in der Tat teilweise darum geht, mehr konsumieren zu können, sind selbst sehr armen Menschen die Gesundheit ihrer Eltern, die Bildung ihrer Kinder, öffentliches Gehör und die Fähigkeit, eigene Träume zu verfolgen, wichtig.

Ein höheres BIP ist nur ein Weg, um dies zu erreichen, und man sollte nicht unterstellen, dass es der beste Weg ist.

Viele bedeutende Erfolge im Bereich der Entwicklung in den letzten Jahrzehnten waren die unmittelbare Folge eines politischen Fokus auf diese breiter angelegte Vorstellung vom Wohlbefinden. Das gilt selbst für einige Länder, die sehr arm waren und immer noch sind. So hat es zum Beispiel selbst in einigen sehr armen, nicht besonders schnell wachsenden Ländern eine massive Verringerung der Sterblichkeit bei Kindern unter fünf Jahren gegeben, was größtenteils daran lag, dass die Politik die Neugeborenenpflege, Impfungen und die Malariaverhütung förderte.

Dies bringt uns zurück zum Abschwung in Indien und China. Es gibt nach wie vor eine Menge, was die Politik in beiden Ländern tun kann, um das Los ihrer Bürger zu verbessern und uns zu helfen, an einer gewissen Hoffnung für die Zukunft unseres Planeten festzuhalten. Ein kurzsichtiger Fokus auf das Tempo des BIP-Wachstums könnte diese Chance vertun.

Abhijit Banerjee, Esther Duflo

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