Martin Schulz' Illusion von Macht: Wenn der „Gottkanzler“ den Papst trifft
Martin Schulz kämpft um sein politisches Erbe. Sogar den Papst spannt er dafür ein – und merkt zur eigenen Überraschung: Da geht noch was.
Der Schein des Blaulichts flackert in seinem Gesicht auf, Martin Schulz schaut durchs Fenster seines Wagens nach draußen: der erleuchtete Petersdom, der Tiber, pittoreske Fassaden, das Castel Sant’Angelo. Vor seinem schwarzen Van fährt ein Polizeiauto, die beiden Beamten hupen die Straßen Roms für ihn frei.
Ein langer Tag geht zu Ende. Italiens Premierminister Giuseppe Conte hat ihn empfangen, ebenso der Europaminister, der Finanzminister und der Gesundheitsminister. Am Tag drauf wartet noch eine Privataudienz beim Papst. „Ich bin doch nur noch ein Hinterbänkler“, sagt Martin Schulz. „Und die empfangen mich hier wie einen Regierungschef.“ Hier, beim wichtigen EU- und G7-Partner, bekommt er den Respekt, den er in Berlin oft vermisst hat.
Früher war Martin Schulz Präsident des Europaparlaments, SPD-Chef, Kanzlerkandidat, kurzzeitig von der Parteibasis zum „Gottkanzler“ ausgerufen und fast Außenminister der Bundesrepublik Deutschland. Nun ist er formal nur noch eines von 709 Mitgliedern des Deutschen Bundestags, MdB Martin Schulz. Während die Mitarbeiter der Deutschen Botschaft ihn protokollarisch korrekt mit „Herr Abgeordneter“ ansprechen, empfangen ihn Italiens Minister unisono mit „Presidente“.
Im Finanzministerium nimmt er auf einem Gold verschnörkelten Stuhl Platz, es wirkt wie ein Thron. Schulz schaut etwas grimmig drein, wissend, was das jetzt wieder für eine Botschaft sein könnte. Er sieht aus wie ein König ohne Land. Diese Reise ist auch eine für das eigene Selbstbewusstsein.
Die Privataudienz beim Papst bot einen Anlass, seinen noch vorhandenen „Marktwert“ zu testen – und um Termine bei der italienischen Regierung zu bitten. „Diese Reise ist auch ein Test für meine verbliebene politische Flughöhe“, sagt er. Er gilt in Italien als echter Europäer, als der gute Deutsche.
"Ihr Knallköppe, hat von euch keiner dran gedacht!"
Hier hat man ihm nie vergessen, dass er sich gegen zu harte Sparauflagen für das hochverschuldete Land einsetzte, das jederzeit bei neuen Zinsausschlägen den Euro in Gefahr bringen könnte. Erstmals redete Italien 2003 über ihn, als er im Europaparlament Premier Silvio Berlusconi hart anging. Und der erwiderte: „In Italien wird gerade ein Film über Nazi-Konzentrationslager gedreht. Ich schlage Sie für die Rolle des Lageraufsehers vor.“
Am Revers des Jacketts trägt Schulz in Rom einen Pin des „Cavaliere di gran croce“, des höchsten Ordens Italiens, der ihm 2012 verliehen worden ist. Und er verkündet in Rom Dinge, die Musik in den Ohren der italienischen Regierung sind. So weist er zum Beispiel bei Finanzminister Roberto Gualtieri darauf hin, dass Deutschland seinen Überschuss von 19 Milliarden Euro dafür nutzen könne, um die EU-Ausgaben hochzufahren.
„Wir haben diese Überschüsse auch, weil wir Hauptprofiteur des EU-Binnenmarktes sind.“ Was Parteikollege und Finanzminister Olaf Scholz davon hält? Schulz betont immer wieder, dass er das Europakapitel des Koalitionsvertrags von Union und SPD fast im Alleingang geschrieben habe – er will dieses Jahr, in dem Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, dafür nutzen, dass sein Traum von einer Europa-Offensive Wirklichkeit wird. Dazu gehört der noch zu beschließende Finanzrahmen 2021 bis 2027. Er kämpft um sein eigenes Erbe.
Es ging schief, was schiefgehen konnte
Schulz rät dringend dazu, enger mit Italien zu kooperieren, damit es nicht an den aus seiner Sicht hochgefährlichen Matteo Salvini fällt. Bei der Terminhatz durch Rom bimmelt zwischendrin das Handy. „Gibt’s doch nicht, stimmt.“ Ein einflussreicher SPD-Politiker hat eine SMS geschickt, er erinnert den „lieben Martin“ daran, dass er auf den Tag vor acht Jahren zum Präsidenten des Europaparlaments gewählt worden ist.
„Ihr Knallköppe, hat von euch keiner dran gedacht!“, blafft er seine Mitarbeiter an, die die Reise organisiert haben und grinst. Dann sagt er: „Wahnsinn, was die stemmen, früher hatte ich für so was einen großen Stab.“
Schulz kam im Wahlkampf 2017 anfangs deshalb so gut an, weil er authentisch ist, immer eine Anekdote auf Lager. Er glaubt bis heute, dass der Niedergang damit begann, dass er sich zu sehr von den Beratern im Willy-Brandt-Haus und anderen Genossen reinreden ließ, statt voll auf sein Europathema und sein Bauchgefühl zu setzen.
Es ging schief, was schiefgehen kann, passende Bilder dazu lieferte er selbst. „Wer beriet Schulz, der sich mit weißem Kittel und einer Plastikhaube in einer Fischfabrik fotografieren ließ, während die Kanzlerin Ivanka Trump oder Wladimir Putin die Hand schüttelte?“, kommentierte zum Beispiel das „Flensburger Tageblatt“ im Mai 2017.
Nun sitzt Schulz in der Lobby des Hotel Nazionale, es ist Samstagmorgen, gleich geht’s zum Vatikan. Schulz will Franziskus ein gelbes T-Shirt schenken, Größe L. Er faltet es zusammen. „Damit kann er ja durch den Vatikan joggen“, sagt Schulz. Auf dem Shirt sind in weiß die Europasterne, dazu der Slogan #myeurope.
Es ist ein eigens für den Papst in den Vatikanfarben angefertigtes T-Shirt seines Vereins „Tu was für Europa“ – gegründet zur Europawahl. Zum Start sorgte der SPD-Politiker dafür, dass der Bahnchef den Berliner Hauptbahnhof abends in den Europafarben erleuchten ließ. Aber das Geschenk ist nicht eingepackt, schnell wird an der Hotelrezeption eine Tüte besorgt. Die beiden Polizisten warten draußen schon, um die Schulz-Kolonne erneut zu starten.
In den Vatikan dürfen Journalisten ihn nicht begleitet. Doch er berichtet, wie er beim Reingehen die Bürgermeisterin Roms, Virginia Elena Raggi von der Partei „Fünf Sterne“ trifft, die vor ihm beim Papst war. Fotos zeigen, wie er Franziskus später in der Bibliothek des Vatikans das T-Shirt überreicht.
Dieser hat ein etwas aufwendigeres Geschenk für den früheren Schüler des katholischen Heilig-Geist-Gymnasiums in Würselen: eine große Bronzemedaille mit einer biblischen Darstellung. Zitiert wird darauf das Buch Jesaja, Kapitel 32, Vers 15 „Il deserto diventera un giardino“ - „die Wüste verwandelt sich zum Garten“. Das passt irgendwie, Schulz steckt gerade auch in der politischen Wüste fest, so wie die ganze SPD. Ob nochmal der Garten der Macht daraus werden kann, ist fraglich.
Den ersten Terminvorschlag des Papstes schlug er aus
Im Vatikan wird er als profunder Kenner der EU angesehen, als wichtiger Vorkämpfer für Demokratie, Dialog, Würde und Respekt in Zeiten zunehmender Finsternis. Es ist ungewöhnlich, dass die Einladung vom Vatikan ausging. Noch ungewöhnlicher ist, dass Schulz den ersten Terminvorschlag am 19. Dezember ablehnen musste, aber der Grund erzählt auch viel über ihn. Ein wichtiger Geburtstag in der Familie und tags drauf die Hochzeit eines Mitarbeiters. „Kann man eigentlich nicht machen, dem Papst absagen.“
„Vatican News“ vermeldet nach dem Treffen etwas irritiert: „Als normaler Parlamentarier hat Schulz derzeit keinen protokollarischen Rang, um eine Audienz im Vatikan zu erhalten.“ Aber Schulz hat Franziskus schon besondere Begegnungen beschert. Bevor der Papst im November 2014 eine Rede im Europaparlament in Straßburg hielt und die Flüchtlingspolitik der EU geißelte („Es ist nicht hinnehmbar, dass das Mittelmeer zum Massenfriedhof wird.“), traf er beim Reingehen plötzlich auf Helma Schmidt.
Franziskus spricht auf Spanisch, Schulz auf Deutsch
Das Team des damaligen Parlamentspräsidenten Schulz hatte die rüstige Dame nach Straßburg eingeladen. Schmidt war Mitte der 1980er Jahre die Vermieterin des heutigen Papstes Franziskus – Jorge Mario Bergoglio hatte damals an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen ein Promotionsvorhaben begonnen, Deutsch-Kurse besucht und bei Schmidt zur Untermiete gewohnt. „Das gibt’s ja nicht“, habe Franziskus auf Deutsch gesagt, als er die damals 97-Jährige im Europaparlament erblickte, berichtet Schulz.
Danach sollen sie wieder öfter Kontakt gehabt haben. Seit der Zeit in Deutschland ist der Papst des Deutschen mächtig, daher redet Schulz bei ihren Gesprächen deutsch, der Papst spanisch, was Schulz ebenfalls versteht.
Schulz darf aus der persönlichen, 45 Minuten dauernden Unterredung nicht berichten, aber es ist bekannt, wie sehr den Papst und seine „Regierung“ der Aufstieg rechter Populisten, der Terrorismus, die Zerstörung von Umwelt und Klima und das schleichende Ende des Multilateralismus sorgt. Als einer seiner bisher wichtigsten Akzente gilt die Reise vor einem Jahr nach Abu Dhabi, seither gibt es engere Kontakte zu muslimischen Würdenträgern, in Zeiten der Spaltungen, will Franziskus religiöse Brücken bauen. Spekuliert wird nun auch über eine mögliche Irak-Reise.
"Da rede ich mit der Merkel drüber"
Eine weitere Spekulation: Franziskus soll angeblich einen Wutanfall über die Einmischung des zurückgetretenen Papstes Benedikt XVI. bekommen haben. Dieser hatte sich in einen Buchbeitrag klar für die Beibehaltung des Zölibats ausgesprochen – aber ohne Bezug zu nehmen auf aktuelle Debatten um Lockerungen zur Bekämpfung des Priestermangels, wie jüngst bei der Amazonassynode im Vatikan.
Als Einmischung kann auch die Reise des Martin Schulz verstanden werden. Zumindest der politische Teil. Die Kanzlerin hat er vorab informiert. Mit Ministerpräsident Conte teilt er die Einschätzung, dass es ein Fehler war, das wichtige Nachbarland Tunesien nicht zur Libyen-Konferenz nach Berlin einzuladen. Und er fordert in Rom die Mobilisierung von Finanzhilfen, um die Milizen in Libyen zu entwaffnen und um ihnen neue Perspektiven zu bieten.
Italien ist am stärksten betroffen, sollte es erneut zu dramatischen Migrationsbewegungen kommen. „Da rede ich mit der Merkel drüber“, ist ein Satz, der öfter fällt.
Vieles fällt eigentlich in den Zuständigkeitsbereich von Außenminister Heiko Maas, immerhin ein Parteigenosse, aber da herrscht meist Funkstille.
Schulz will sich auch starkmachen für ein großes Event zum 50-jährigen Jubiläum des Jahrhundertspiels Deutschland-Italien bei der WM 1970 in Mexiko am 17. Juni, um die gemeinsamen Bande zu stärken.
"Ich bin nicht mehr erste Reihe, aber auch nicht aus der Welt"
Schulz weiß noch genau: 1:1 durch Karl-Heinz Schnellinger in der 89. Minute, der spielte früher für seinen 1. FC Köln. Schulz wäre nicht Schulz, wenn er nicht auch Italiens Siegtorschützen zum 4:3 in der Verlängerung schon getroffen hätte: Gianni Rivera – der saß später einige Jahre im Europaparlament. „Der hat mich gefragt, ob ich mich noch an den Verteidiger erinnern könne, dem er vor dem Tor entwischt sei?“ Da musste Schulz passen. Riveras süffisante Antwort: Der hieß auch Schulz. Willi Schulz vom Hamburger SV.
„Ich bin nicht mehr die erste Reihe, aber auch nicht aus der Welt“, sagt der andere Schulz in Rom. Kaum jemand in Europa hat so ein Telefonbuch wie er. Eigentlich wäre er in diesen Krisenzeiten mit Brandherden wie Iran und Libyen ein idealer Außenminister, um die wichtigsten Länder der EU auf eine gemeinsame Linie einzuschwören.
"Leck mich en de Täsch"
Ob er nochmal eine Chance bekommt? Mit 64 ist er im besten Politik-Alter, aber er denkt auch an seine Familie. „Am 1. Februar beginne ich mein 46. Lebens-Arbeitsjahr. Leck mich en de Täsch.“ Los ging alles mit der Ausbildung zum Buchhändler.
Das Arbeitsjahr 2017 wurde zum Höhe- und Tiefpunkt zugleich. Er stolperte über eigene Fehler, Häme und darüber, dass er auf hartnäckiges Nachfragen eines Welt-Journalisten gesagt hatte, dass er niemals in ein Kabinett unter Kanzlerin Angela Merkel eintreten würde. Das war kurz nach der Bundestagswahl, als alles noch auf eine Jamaika-Koalition hinauslief.
"Da ist ja ein Martin Schulz Fanclub hier!"
Die Festlegung kostete ihn das Amt des Außenministers. Statt Schulz, der auch mal Risiken eingeht, wählte die SPD den lange mit dem Amt fremdelnden Maas, den einige SPD-Granden für eine Fehlbesetzung halten. Und jetzt, wo er die Libyen-Konferenz auf den Weg gebracht hat, damit eine Konfliktlösung die Zahl der über das Mittelmeer flüchtenden Menschen eindämmt, macht Angela Merkel das Thema zur Chefsache.
Einige könnten diese Schulz-Reise als unfreundlichen Akt gegenüber Maas verstehen. Er wirkt in Italien fast wie der Schatten-Außenminister. Immer wieder blitzt die Illusion auf, er hat noch richtig Macht.
Im Europaministerium schaut sich Schulz beim Rausgehen die Ahnengalerie der Minister an. Und erblickt als erstes Patricia Toia. „Die hat mir mal einen Stich des Mailänder Doms geschenkt.“ Ein bekanntes Gesicht neben dem anderen.
„Das ist ja der Martin-Schulz-Fanclub hier“. Ganz am Ende erblickt er Giulio Andreotti. Der war an 33 Regierungen beteiligt und sieben Mal Premier. „Kennen Sie seinen berühmtesten Satz“, fragt Schulz. „Die Macht verschleißt nur den, der sie nicht hat.“