Politiker fordern vollständige Öffnung: „Wenn Biergärten öffnen, haben auch Kinder Betreuung verdient“
Politiker und Mediziner fordern, Kitas und Schulen schnell für alle wieder zu öffnen. Auch die Familienministerin macht jetzt Druck.
Es war Ende April, als Jens Spahn im Bundestag bemerkenswerte Sätze sagte. „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hätten Politiker mit so vielen Unwägbarkeiten so tiefgehende Entscheidungen treffen müssen, betonte der Gesundheitsminister. Und eine dieser Corona-Unwägbarkeiten war die Frage flächendeckender Kita- und Schulschließungen. Deren Antwort könnte aus Sicht einiger beteiligter Regierender im Rückblick in die Kategorie „Fehler und Verzeihen“ fallen.
Bundesweite Schließungen ein Fehler?
Bei der bis heute letzten „physischen“ Sitzung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und der Ministerpräsidenten wurden am 12. März auch RKI- Chef Lothar Wieler und der Charité-Virologe Christian Drosten hinzugezogen. Die Bilder aus Bergamo vor Augen entwickelte sich eine Eigendynamik, zudem platzte die Meldung aus Frankreich in die Sitzung, dass dort alle Schulen und Kitas schließen.
Merkel sagte anschließend, dass lediglich in Regionen mit dynamischem Ausbruchsgeschehen „auch die vorübergehende Schließung von Kindergärten und Schulen“ eine Option sein könne.
In den Folgetagen beschlossen dann aber alle 16 Landesregierungen, dass die Kinder überall zu Hause bleiben müssen. So wie in vielen anderen Bereichen war der Weg in den Lockdown schnell beschlossen, der Weg zurück ist aber kompliziert. Seit vor wenigen Tagen vier medizinische Fachgesellschaften gefordert haben, Kindergärten und Schulen trotz der Corona-Pandemie wieder vollständig zu öffnen, gibt es noch mehr Dynamik in die andere Richtung.
Bundesländer machen wieder auf
Sachsen ist hier mit der bereits erfolgten Öffnung Vorreiter. Am 8. Juni machen die Kitas auch in Nordrhein-Westfalen für alle Kinder wieder auf, in einem eingeschränkten Regelbetrieb. So sollen die Jungen und Mädchen nur in einem reduzierten Umfang betreut werden, 15 bis 35 Stunden pro Woche.
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Die Kitas müssen zudem die Gruppen räumlich voneinander trennen. Es darf nur feste Gruppen mit mindestens einer Fachkraft geben, die Kontakte müssen nachvollziehbar bleiben – so wie es auch in der 13-seitigen Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene, der Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, der Deutschen Akademie für Kinder und Jugendmedizin und des Berufsverbands der Kinder und Jugendärzte gefordert worden war.
Die Experten betonen, der Anteil von Kindern bis zehn Jahre an allen positiv getesteten Patienten liege in Deutschland bei unter zwei Prozent, bisherige Daten würden für eine geringere Infektions- und auch für eine deutlich geringere Ansteckungsrate sprechen.
Auch Charité-Virologe Christian Drosten verweist am Donnerstag auf die Studie, betont aber, dass man das so oder so sehen kann: Die Autoren würden lediglich "nach eigener Interpretation des Wissensstands" die sofortige und uneingeschränkte Öffnung von Kitas, Kindergärten und Schulen fordern.
Laschet: Biergärten offen, Kitas nicht?
Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet, Kandidat für den CDU-Vorsitz, schafft es, auch diese Frage zu einem Vergleich mit seinem Unions-Kontrahenten und CSU-Chef Markus Söder zu nutzen. „Wenn man sieht, dass inzwischen in Bayern Biergärten geöffnet haben, dann finde ich, haben auch die Kinder wieder Betreuung verdient“, sagte Laschet in der ARD. Er habe immer dafür plädiert, abzuwägen, „welche Schäden richten wir auch an, wenn Kinder jetzt seit über acht Wochen nicht mehr in den Kitas waren“.
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Auch in Rheinland- Pfalz soll ab Juni ein „eingeschränkter Regelbetrieb“ gelten, wie das Bildungsministerium in Mainz mitteilte. Und Berlin weitetet die Notbetreuung ab kommenden Montag weiter aus, Fünfjährige und ihre Geschwister dürfen wieder in die Kitas.
Giffey macht Druck
In der Bundesregierung spiegelt sich in der Frage eine gewisse Uneinigkeit wider. Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) warnt beim "Redaktionsnetzwerk Deutschland" vor einem Überbietungswettbewerb, Familienministerin Franziska Giffey (SPD) sagt dagegen dem „Tagesspiegel“: „Aus Sicht des Kinderwohls wäre es das Beste, wenn alle Kinder so schnell wie möglich wieder wie gewohnt in ihre Kitas und Schulen gehen könnten.“ Kinder könnten Schaden nehmen, je länger die Situation anhalte. Gerade für die Entwicklung von Kindern aus sozial schwierigen Verhältnissen sei es problematisch, wenn sie lange ohne professionelle Bildungsanleitung auskommen müssen.
Um die baldige Öffnung auch wissenschaftlich besser begründen zu können, beteiligt sich das Familienministerium derzeit an einer bundesweiten Studie. „Dafür bauen wir ein bundesweites Kitaregister auf, das wöchentlich aktuelle Informationen zur Situation und zum Infektionsgeschehen in den Kitas bundesweit sammeln und auswerten wird“, sagt Giffey. Zusammen mit weiteren Testergebnissen der Länder und aus dem neuen Kita-Alltag könne man hoffentlich „zeitnah fachlich fundierte Schlüsse für die zügige, aber auch verantwortungsvolle weitere Öffnung gezogen werden“.