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Ein Obdachloser schläft auf einer Bank auf dem Boulevard Unter den Linden.
© picture alliance/dpa

Obdachlosigkeit: Welche Hilfe tatsächlich gebraucht wird

Es sind weniger materielle Dinge, die fehlen. Was sich Obdachlose vor allem wünschen, ist menschliche Zuwendung und Betreuung. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Ariane Bemmer

Nachdem in einer Nacht Ende Januar rund 2700 Freiwillige durch Teile Berlins geschwärmt waren, um Obdachlose zu zählen, wurde das Ergebnis bestaunt. 2000 Obdachlose waren gezählt worden. Nanu, so wenig.

Erklärungen waren schnell parat: weil nicht in Parks, nicht in S-Bahnen, nicht in Abbruchhäusern, nicht auf Privatgrundstücken gezählt worden war, und dass außerdem einige Obdachlose nicht gezählt werden wollten.

Aber vielleicht war es auch noch etwas anderes.

Eine ganz andere Welt

Frank Zander, der ungekrönte König des Engagements für Obdachlose, sagt über das Leben auf der Straße, da herrsche knallharte Konkurrenz, da gebe es oft Aggressionen. Zander sagt: „Das ist eine ganz andere Welt.“

Und vielleicht ist das das eigentliche Problem: dass Menschen ohne Wohnung nicht nur keine Wohnung haben, sondern damit in einer anderen Welt landen. Zwischen den Welten baut sich schnell eine gläserne Wand auf, die immer milchiger wird, bis irgendwann niemand mehr durchschauen kann.

Keine Passanten, keine Normalstadtbewohner, keine Zählteams mit Klemmbrett. Vielleicht noch Menschen, die ihren Blick seit Jahren schärfen, aber sonst kaum noch einer.

Solidarität durch gemeinsames Essen und Selfie-Aktion?

Zander war ein paar Tage nach der Zählergebnispräsentation im Not-Café der St.-Thomas-Kirche in Berlin-Kreuzberg. Der Gemeinde war aufgefallen, dass die Klemmbrett-Teams zwar unter dem Namen „Nacht der Solidarität“ losmarschiert waren und gut betreut wurden, dass aber für die Obdachlosen selbst wenig Solidarisches dabei rumgekommen sei.

Das wollte man nachholen, mit einem Essen und einer Selfie-Aktion: Wer Interesse hatte, konnte sich in der Kirche zusammen mit Frank Zander von einem Profi fotografieren lassen und bekam gleich einen Ausdruck von dem Bild ausgehändigt.

Ein älterer Herr nahm das Angebot an. Als er aber den Ausdruck bekam, sah er, dass er, als die Kamera auslöste, die Augen geschlossen hatte. „Mmhh, ja“, murmelte er und strich über das Bild, sagte aber nichts. Die Helfer am Drucker entdeckten das Malheur zufällig auch.

Sie riefen Frank Zander zu einem zweiten Foto herbei. Jetzt hatten beide die Augen auf und lächelten. Der Mann brummte zufrieden. Er selbst, das war ziemlich klar, hätte sich dieses zweite Foto nicht erbeten.

Wurde er gezählt in der Nacht? Nein. Wie er die Aktion fand? Mmmh, ja.

Jemand soll da sein

Was er sich unter Solidarität vorstellt? Da sagt er, der Wohnungslose, dass er oft in einer Unterkunft aushelfe.

Und was an Solidarität fehlt? „Dass da jemand ist", sagt er.

Dass da jemand ist - ein mehr als verständlicher, ein ur-menschlicher Wunsch. Viele werden ihn kennen, die nur mal vorübergehend auf unbekanntem Terrain unterwegs waren. In fernen Ländern, deren Sprache sie nicht verstanden und deren Regeln sie nicht kannten.

In finsteren Gegenden, die Angst einflößten. Im Krankenhaus bei der Aufnahme, wenn sie nicht wussten, wohin und was wann und warum passieren würde, aber zu schwach und und krank waren, um Aufklärung einzufordern. Manche wünschen sich schon eine „helping hand“, wenn sie im Internet Buchungen vornehmen sollen.

Wie dann nicht erst recht Menschen, die in einer anderen Welt leben? Dass da jemand ist. Sei es einer, der im Kleinen ein zweites Foto organisiert, oder der im Großen beim Zurechtkommen hilft.

Erschöpfung als Ausgangspunkt von Hilfsmaßnahmen

Wenn man die Zandersche Feststellung und den Wunsch des fotografierten Herrn ernst nimmt, fehlt es vielleicht sehr viel weniger an Notunterkünften, an Kaffee und warmem Essen als an dieser Art Zuwendung und Betreuung. An Menschen, die an die Hand nehmen und vor allem auch dran bleiben. Wahrscheinlich ist das utopisch.

Andererseits ist es notwendig, wenn man mit der Hilfe erreichen will, das die Menschen es zurückschaffen, bevor die andere Welt sie zu stark verändert hat. Denn die andere Welt der Wohnungslosigkeit ist eine anstrengende und menschenfeindliche. Keine Wohnung heißt niemals Ruhe, niemals Rückzug, niemals Sicherheit. Es heißt immer unterwegs sein und dabei fast immer allein.

Die Erschöpfung von Menschen in Not, so kann man es sehen, wird zu selten zum Ausgangspunkt von Hilfsmaßnahmen gemacht. Dabei ist sie von zentraler Bedeutung. Sie ist der Faktor schlechthin, der entscheidet, ob Hilfe ankommt oder nicht.

Hilfsmaßnahmen werden in der Regel von Menschen erdacht und geplant, die nicht in Not sind. Sie denken sich Formulare und Behördengänge aus, die für Menschen, die leben wie sie selbst, kein Problem darstellen. Für die anderen, die in der anderen Welt, aber schon. Hilfe kann so zur Hürde auf dem Weg raus der Milchglaswelt werden.

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