Reste aus den Weltkriegen: Was wird aus den Millionen Tonnen Munition in Deutschlands Meeren?
In Nord- und Ostsee liegen rund 1,6 Millionen Tonnen Munitionsreste aus den Weltkriegen. Forscher befürchten große Umweltschäden, doch die Bergung wäre möglich.
Es ist der Morgen des 28. August 1914 als die "SMS Mainz" zum letzten Mal in See sticht. Seit einem Monat tobt der Erste Weltkrieg und der kleine Kreuzer der Kaiserlichen Marine hat bereits seine ersten gefährlichen Einsätze vor der Küste Großbritanniens hinter sich.
An diesem Morgen liegt die "Mainz" in der Reede von Borkum als der Befehl zum Auslaufen kommt. Britische Verbände haben vor Helgoland das Feuer eröffnet, die "Mainz" wird zur Unterstützung gerufen. Doch soweit schafft es das 130 Meter lange Schiff nicht, gegen Mittag gerät es unter Beschuss.
[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen aus Berlin live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App. Hier für iPhones gratis herunterladen.]
Drei Torpedos treffen das Schiff und beschädigen es schwer. 92 Personen sterben, darunter der Kapitän. Die übrige Besatzung - insgesamt 348 Mann - ergibt sich und wird gerettet - doch davor öffnen die Matrosen die Flutventile. Um 14:05 Uhr sinkt die "Mainz".
Fast 107 Jahre später beschäftigt sich der Deutsche Bundestag mit der "SMS Mainz" und den anderen mindestens 120 Wracks aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, die noch auf dem Grund der Deutschen Bucht liegen. Denn ihre Geschichte noch nicht vorbei. Meerwasser und Gezeiten nagen an den Schiffen, Wissenschaftler befürchten enorme Umweltschäden. Und dabei sind die Schiffe nur das geringste Problem.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stießen die Alliierten auf massenhaft Reste von Waffen und Munition. Um die Deutschen schnell und endgültig zu entwaffnen, entschloss man sich, sie vor der Küste zu verklappen. Granaten, Minen, Munition, darunter auch chemische Waffen - alles wurde ins Meer geworfen. Konservative Schätzungen gehen von insgesamt 1,6 Millionen Tonnen Munition in Nord- und Ostsee aus. Das Gewicht von 158 Eifeltürmen.
Eine gewaltige Menge und ein gewaltiges Problem. "Überall dort, wo Munition liegt, treten Stoffe aus, die giftig und teils erbgutverändernd sind", sagt der Meeresbiologe Matthias Brenner. Seit 2011 beschäftigt er sich am Alfred-Wegener-Institut mit dem gefährlichen Erbe auf dem Meeresgrund. Erst in der vergangenen Woche war Brenner für fünf Tage mit einem Forschungsschiff in der Deutschen Bucht, um Wasser- und Sedimentproben an der "SMS Mainz" zu entnehmen.
Veränderungen durch die Munitionsreste können Wissenschaftler wie Brenner schon jetzt feststellen. Im Ostseewasser lassen sich Spuren von TNT nachweisen, bei Fischen wurden nahe der Versenkungsgebiete vermehrt Explosivstoffe in der Galle gefunden, bei Dorschen im Bornholmer Becken fanden sich selbst im Filet Spuren von Chemie.
[Alle wichtigen Nachrichten des Tages finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter "Fragen des Tages". Dazu Kommentare, Reportagen und Freizeit-Tipps. Zur Anmeldung geht es hier.]
Für den Menschen seien die bisher gemessenen Konzentrationen nicht gefährlich. Noch nicht. "Das Problem wird zunehmen", sagt Matthias Brenner. Bisher sei ein großer Teil der Munition nicht durchgerostet, die chemischen Stoffe würden also nur teilweise austreten. Doch das Salzwasser nagt am Metall und verwandelt die alten Waffen zu tickenden Zeitbomben auf dem Meeresgrund.
Grüne und FDP setzen sich für schnelle Bergung ein
Am Donnerstag hat sich deshalb der Bundestag mit dem Problem beschäftigt. Nachdem ein interfraktioneller Antrag gescheitert war, wurde über einen Antrag von FDP und Grünen beraten. Er fordert die Bundesregierung auf, eine Strategie zur Kartierung und Bergung der Munitionsreste zu entwickeln. Dafür solle eine zentrale Institution geschaffen werden und der Bund solle sich finanziell stärker einbringen - eigentlich ist das Beseitigen von alten Weltkriegsbomben und Munition Aufgabe der Länder.
"Die Bundesländer, die Anrainerstaaten, können dieses Problem definitiv nicht alleine bewältigen", sagte Grünen-Politikerin Steffi Lemke am Donnerstag im Plenum des Bundestags. Es müsse nun schnell und unideologisch gehandelt werden, forderte sie. "Das Zeitfenster schließt sich", sagte Lemke. Der FDP-Abgeordnete Olaf in der Beek sprach von einer "alarmierenden" Lage und verwies auf die bereits existierende Technik, die es zur Bergung gebe und zum Beispiel von Offshore-Unternehmen genutzt wird.
Die Abgeordnete der CDU, Astrid Damerow, teilte die Sorge über die Folgen der Munitionsbelastung, sagte aber: "Die Problemlösung ist sicherlich ein Marathon." Ein Vorgehen müsse international mit den Anrainerstaaten der Nord- und Ostsee abgestimmt werden.
Ihr Parteifreund Peter Stein ergänzte, es gehe um eine "faire Aufteilung" Kosten. "Es sollte auch die Europäische Union mit ins Boot." Am Ende der Debatte wurde der entsprechende Entschließungsantrag per Abstimmung zunächst an den Umweltausschuss überwiesen. Dort droht ihm wohl ein ähnliches Schicksal wie den Wracks auf dem Meeresboden.
Bislang gibt es nur interne Kostenschätzungen
Vom Bundesumweltministerium heißt es auf Anfrage, man sei zwar zuständig für Altmunition im Meer, nicht aber für die Bergung. Dort will man auf Strategien der Umweltministerkonferenz (UMK) warten, sowie die Zusammenschlüsse der Anrainerstaaten von Nord- und Ostsee.
Auch zu den Kosten gebe es nur unvollständige, interne Schätzungen - aber schon die gehen in die Millionen. Die Forderung nach einer zentralen verantwortlichen Institution beantwortet man deshalb zögerlich: "Zu dieser Option sind noch viele administrative und fachliche Fragen offen, die noch geprüft werden müssen", sagte ein Sprecher.
Den Bundesländern an Ost- und Nordsee geht das Prozedere zu langsam. "Nun muss es darum gehen, gemeinsam mit dem Bund realistische Strategien zu entwickeln, das Meer von der Munition zu befreien", sagt die schleswig-holsteinische Staatssekretärin für Umwelt Dorit Kuhnt dem Tagesspiegel. Das Umweltministerium in Kiel will daher bei der nächsten UMK Ende April einen neuen Antrag einbringen.
Auch Meeresbiologe Matthias Brenner würde sich mehr Tempo von der Politik wünschen. "Wir brauchen jetzt die Unterstützung für ein Monitoring, damit wir wissen, wo die Umweltgefahr am größten ist und wir am dringlichsten handeln müssen."
Doch selbst wenn die Politik handeln sollte, wird sich am Schicksal der "SMS Mainz", die seit 1914 am Grund der Deutschen Bucht liegt, wohl nichts ändern. Sie gilt als historisches Denkmal und wegen der 92 Toten auch als Seemannsgrab. Gehoben werden darf das Wrack deshalb nicht.