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Trauer um die Toten. Eine Mutter weint vor einigen Tagen bei einer Beerdigung in Afrin.
© Souleiman/AFP

Türkischer Einmarsch im syrischen Afrin: „Was will Erdogan von mir?“

Beim türkischen Angriff auf das syrische Afrin sind schon Hunderte ums Leben gekommen. Nun sollen auch kurdische Zivilisten Widerstand leisten.

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Noch vor einigen Tagen hat Ahmad Moho nicht daran gedacht, in den Kampf zu ziehen. Schießen, wozu? In Hesrike, einem Dorf im Nordwesten Syriens, war der Krieg ja all die Jahre nicht angekommen. Die Schlachten zwischen Truppen der Zentralregierung, Aufständischen und aus so vielen Ländern eingereisten Islamisten – sie waren geografisch nah, im Alltag aber weit weg.

Vor drei Wochen dann griffen Kampfjets und Hubschrauber der türkischen Armee auch sein Dorf an. Mit ihnen rücken auch Islamisten nach Hesrike mit seinen knapp 900 Bewohner vor. So floh Moho nach all den Jahren, die er trotz Krieges fast in Frieden lebte, aus dem Dorf zwölf Kilometer Richtung Afrin. „Ich werde die Stadt nicht verlassen“, sagt Ahmad Moho am Telefon vor einigen Tagen. „Ich bin bereit, mit der YPG zu kämpfen – und in meinem Land begraben zu werden.“

Ahmad Moho, Mitte 40, Olivenbauer, ist Kurde und die YPG unter all den Verbänden der syrischen Kurden der größte. Die „Volksverteidigungseinheiten“ gehören zur in Afrin regierenden, säkularen Kurdenpartei PYD. Afrin ist die Regionalhauptstadt der gleichnamigen Provinz an der türkischen Grenze in Nordwest-Syrien. Die Region gehört zu der Rojava genannten Autonomiezone, in der Kurden sowie muslimische und christliche Araber leben. Sicher, es gab Streit – auch zwischen Kurden. Im Vergleich zu anderen Regionen Syriens einigten sich die Bewohner friedlich auf ein multiethnisches System. Jede Minderheit erhielt einen Sitz in den Gemeinderäten.

Eine vom Krieg umschlossene Enklave

In Afrin hat die Regionalverwaltung nun zur „Generalmobilmachung“ aufgerufen: Auch Zivilisten sollen Verteidigungsgräben ausheben, mit Gewehren patrouillieren, Vorräte anlegen. Auf den Plätzen der Stadt rufen Tausende: „Nein zur Besatzung!“ Die Stadt ist eine vom Krieg umschlossene Enklave – weshalb kaum Informationen erhältlich sind. Überprüfbare schon gar nicht. Der Tagesspiegel erreichte einige Bewohner aber telefonisch.

Rund 1,2 Millionen Männer, Frauen, Kinder leben in Afrin. Die Gesellschaft für bedrohte Völker hatte gewarnt, dass Hunderttausende vertrieben werden könnten. Viele zum zweiten Mal, denn sie kamen einst aus Aleppo in die kurdische Schutzzone. Medico International ruft denn auch zu Spenden auf.

Das mit dem Frieden in Afrin klappte bislang nur, weil die Kurden nach Ausbruch des Krieges 2012 mit den Truppen der Zentralregierung einen Waffenstillstand vereinbarten. Und weil die USA die Kurden unterstützten, Russland sie zumindest duldete. Die Schutzmächte brauchten die Kurden im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS).

Doch während im Westen das US-Militär und die europäische Linke die Kurden bejubelten, arbeitete die Regierung in Ankara daran, den kurdischen Autonomiewillen zu brechen. Schließlich ist, das gehört nicht nur zur Lesart des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan, die in Afrin regierende PYD eine Schwesterorganisation der militanten Arbeiterpartei Kurdistans PKK. Die kämpft seit Jahrzehnten gegen das türkische Militär, das wiederum bis in den Irak fliegt, um PKK-Siedlungen zu bombardieren.

„Ich bin Zivilist“, sagte Ahmad Moho. „Was will Erdogan von mir?“

Laden zerstört, weil er Alkohol anbot

Die wenigen westlichen Beobachter in Afrin berichten in Internetforen davon, dass sich auch Männer und Frauen an die YPG wenden, die der Truppe bislang skeptisch gegenüberstanden. Unter dem Kommando der „Volksverteidigungseinheiten“ kämpfen zudem fast alle christlichen Verbände und einige muslimische Araber.

Eine Kurdin im Libanon hat sich gelb-rot-dunkelgrüne Fahnen der syrischen Kurden und die Flagge der Kurden im Nordirak auf die Wange gemalt.
Eine Kurdin im Libanon hat sich gelb-rot-dunkelgrüne Fahnen der syrischen Kurden und die Flagge der Kurden im Nordirak auf die Wange gemalt.
© Eid/AFP

Auf der anderen Seite rücken Erdogans Truppen zusammen mit islamistischen und turkmenischen Milizen vor. Die prahlen im Internet damit, ein Kalifat oder ein neues Osmanisches Reich errichten zu wollen. Ganz so, als wollten sie alle Befürchtungen bestätigen. In Bulbul haben protürkische Angreifer einen Laden zerstört – weil er Alkohol anbot.

Erdogan hatte vor Jahren ein Embargo gegen die kurdische Enklave durchgesetzt: Afrin ist von der türkischen Grenze, islamistischen Milizen und Ankara-nahen Verbänden fast umschlossen. Nur ein kleiner, von russischen Truppen bewachter Korridor führt aus der Enklave nach Süden, nach Aleppo.

In der Nacht zu Dienstag durfte jedoch ein Konvoi jesidischer Kämpfer aus Ostsyrien und Nordirak durch den Korridor. Damit hatten viele Kurden nicht gerechnet. In den meisten Städten Syriens haben die Truppen von Syriens Machthaber Baschar al Assad wieder die Kontrolle. Und er, das mit ihm verbündete Russland, aber eben auch die Amerikaner und die UN hatten Erdogan gewähren lassen. In der Türkei befürwortet eine Mehrheit die Offensive.

Der Bürgermeister von Istanbul-Bagcilar signierte gar ein Geschoss mit dem Slogan „Die ist für Afrin“ und verbreitete das Bild im Netz.

Die Internetverbindung funktioniert nur selten

„Warum reagiert die Welt nicht auf diesen Angriff?“, fragt Ahmad Moho. Mit den vier Kindern und seiner Frau lebt er bei der Familie ihres Bruder, alle zusammen in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Moho ist in diesen Tagen meist nur auf seinem alten Handy zu erreichen. Die Internetverbindung, über die er sonst mit geflohenen Bekannten spricht, funktioniert seit den Angriffen nur selten. Seine Kinder schliefen kaum noch: der Lärm der Kampfjets, die Geschosse, die in der Nachbarschaft einschlagen, die Sirenen. Und die Einschläge kommen näher.

Türkischen, kurdischen und syrischen Beobachtern zufolge sollen während des Einmarschs in Afrin insgesamt 600 Männer, Frauen und Kinder getötet worden sein. Die meisten Toten sind Kurden, darunter nach Angaben kurdischer Quellen 130 Zivilisten. Es starben auch Dutzende türkische Soldaten, islamistische Milizionäre und Anwohner an der türkischen Südgrenze. Noch halten die Kurden 90 Prozent Afrins.

Auch in Grko, einem anderen Dorf nahe der türkischen Grenze, brach vor einigen Tagen eine Familie auf. Der 79-jährige Großvater hatte Mühe, die sieben, acht Kilometer bis nach Afrin zu laufen. Khalil Shockri, Anfang 20, ist einer seiner Enkel. „Wir haben Glück“, sagt er, „dass meine Schwester in der Stadt eine Wohnung hat.“ Sie leben mal zu zehnt, mal zu zwölft in den Räumen der schwesterlichen Familie. Einer Erdgeschosswohnung. „Das ist besser, die Bomben treffen die Häuser meist von oben.“

Khalil hat mit zwei Brüdern als Handwerker gearbeitet. Wegen der Blockade fehlte es an Material und Werkzeugen, gute Handwerker wurden gebraucht. Nun gibt es nicht nur kein Baumaterial, sondern auch kaum Lebensmittel.

Kurden im Libanon vor der US-Botschaft. Sie zeigen das Bild einer 23-Jährigen aus Afrin, die von protürkischen Islamisten gequält und verstümmelt wurde.
Kurden im Libanon vor der US-Botschaft. Sie zeigen das Bild einer 23-Jährigen aus Afrin, die von protürkischen Islamisten gequält und verstümmelt wurde.
© Eid/AFP

In Afrin suchen sie jetzt Männer und Frauen, die sich den Islamisten – die für Ankaras Armee vornewegstürmen – entgegenstellen, die Nachschubwege erobern und sich nicht von Kampfjets erwischen lassen. Der Mann seiner Schwester, sagt Khalil Shockri dann, sei ein YPG-Kämpfer: „Er kommt zwei Stunden pro Tag nach Hause, er ist dauernd mit anderen Kämpfern unterwegs.“ Für alle stellt sich die Frage: Warten, bis die Kampfjets die Region zerbombt und die Islamisten sie besetzt haben? Oder durch den Korridor in den von Assad kontrollierten Süden fliehen? Bisher fliehen nur wenige. Denn auch unter Assad leben Kurden gefährlich. „Mich würde man sofort festnehmen, ich habe nicht in der Armee gedient“, sagt Khalil Shockri. „Ich bin Deserteur.“ Die laizistischen Kurden würden von Erdogans Truppen, vor allem jedoch den protürkischen islamistischen Milizen massakriert. Daran zweifeln auch außerhalb Afrins nur wenige Beobachter. Fest steht allerdings auch, dass Assads Armee ebenfalls eine Gefahr ist. Denn die Kurden, die Rojava als Modell einer nahöstlichen Föderation und nicht als Verfügungsmasse Assads sehen, gelten als Landesverräter.

Nicht alle Bewohner der Dörfer, die angegriffen wurden, haben Verwandte in der Stadt. Inzwischen sind Familien in Höhlen geflohen. Ein, zwei Kerzen, etwas Brot, ab und zu trockenes Gemüse. Afrin ist bergig. Und obwohl es Olivenhaine gibt, schneit es.

Deutschland erklärte den Angriff auf Afrin nicht für völkerrechtswidrig

In denjenigen Orten Rojavas, die Erdogan erst noch stürmen lassen will, haben zuletzt Hunderttausende demonstriert. Auch in Paris, London, Berlin gingen Zehntausende auf die Straße. Sie fordern den Westen auf, der Türkei kein Kriegsgerät mehr zu verkaufen. Und die Kurden als Akteur anzuerkennen. Die Stiftung Wissenschaft und Politik, die auch Bundespolitiker berät, schrieb unlängst: Auch wenn die Selbstverwaltung in Rojava von der PYD dominiert werde, habe die Bedrohung durch Dschihadisten die Position der Kurdentruppe „als zuverlässiger Beschützer aller Bewohner“ gestärkt. Frankreichs damaliger Präsident François Hollande empfing 2015 eine Delegation der Kurdenmiliz.

In Deutschland ist das Verhältnis zu den Kurden schwieriger. Die Bundesregierung lieferte jahrzehntelang Waffen an die Türkei. Und sie erklärte den Angriff auf Afrin nicht für völkerrechtswidrig – was viele Experten anders sehen.

Als Ahmad Moho vor einigen Tagen wieder ins Internet kommt, sieht er dort ein Amateurvideo. Es zeigt Milizionäre, die schon früher mit Al Qaida und dem IS gegen Kurden gekämpft haben. Im Clip ist zu sehen, wie Männer eine vergewaltigte Kurdin verstümmeln. Dabei lachen sie. Einer ruft in die Kamera: „Hey Leute, kommt her, es gibt noch mehr Frauen.“ Ein paar Stunden später bombardierte Ankaras Luftwaffe wieder kurdische Stellungen.

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