Kurdische Offensive auf IS-Hochburg Rakka: "Unsere Koalition könnte ein Modell für ganz Syrien sein"
Der eine, Sardar Kabar, steht mit der Waffe in der Hand vor Rakka. Der andere, Salih Muslim, plant im Exil schon das neue Syrien. Denn der Kampf um die letzte Bastion des Islamischen Staates hat begonnen.
- Muhamad Abdi
- Hannes Heine
Wo genau er sich mit seiner Einheit gerade befindet? Das könne er nicht verraten, sagt der Mann, der hier Sardar Kabar heißen soll. Nur dies: „Wir sind vier Kilometer vor Rakka.“ Das war am vergangenen Sonntag, per Skype ist der SDF-Kämpfer zu einem Gespräch bereit. Weder sein richtiger Name, sein Alter, noch seit wann er in Syrien kämpft, sollen öffentlich werden. Denn es steht Historisches bevor: der „Kampf zur Befreiung“, eine „große Schlacht“, vielleicht die vorerst letzte. So sagen es die Kommandeure der SDF, der „Syrischen Demokratischen Kräfte“, als sie vom Sturm auf jene Stadt sprechen, die als Hauptstadt des so genannten Islamischen Staates gilt. Es könnte das Ende des IS sein, wie man ihn kannte.
Kabar und seine Leute haben den IS im zurückliegenden Jahr von 6000 Quadratkilometern vertrieben. Sie kommen kaum zur Ruhe. „Ich schlafe fünf Stunden am Tag“, sagt Kabar. „In Intervallen.“ Die Flecktarn-Uniform behält er an. „Wir erwarten die Ankunft unserer Kräfte von vier Seiten“, sagt er.
Am Dienstag ist es so weit. Die aus ziemlich unterschiedlichen Milizen zusammengesetzten SDF beginnen mit der Offensive auf Rakka. In Geländewagen, zu Fuß, mit gepanzerten Fahrzeugen rücken die Kämpfer, dazu vor allem kurdische Kämpferinnen vor. Im östlichen Vorort Al Meschleb nehmen sie nach wenigen Stunden erste Häuser ein.
Kabar, der sagt, Worte seien nicht genug, „um mein Gefühl zu beschreiben, wenn ich gegen diese Terroristen kämpfe“, hat Erfahrung. „Als ich in der Schlacht von Kobane gegen den IS kämpfte, dachten die Leute, die Stadt gehe unter, am Ende haben wir gesiegt.“
Kabar kämpfte schon in Kobane gegen den IS
Kobane, jene kurdisch-syrische Stadt, aus der Kabar stammt, in der er einst studierte und die 2014 von einer besonders brutalen IS-Division belagert wurde. Deren Schergen junge Frauen verstümmelten, bevor sie Haus für Haus eroberten, bis Kurden aus Syrien, der Türkei und dem Irak sie zurückschlagen konnten – die Schlacht um Kobane ist im Nahen Osten heute Symbol für den Kampf gegen das Böse. Nun also Rakka, die De-facto-Kapitale der islamistischen Massenmörder. Mossul im Irak, die zweite von ihnen besetzte Großstadt, ist weitgehend zurückerobert.
Rakka, das sind inzwischen wohl weniger als 200 000 Männer, Frauen und Kinder – die seit drei Jahren unter dem brutalsten Terrorregime der Neuzeit leiden. Oder aber, auch das gilt es bei der Eroberung zu bedenken, von denen viele mit eben jenen Massenmördern kooperiert haben – angeblich sollen nicht einmal 4000 IS-Kämpfer Rakka halten. Als der IS die Stadt 2014 von Oppositionellen eroberte, konnten sich die Islamisten auf sunnitische Stämme vor Ort verlassen. Nun sollen Viertel unter Wasser stehen, geflutet mit dem Wasser des Euphrat, um Panzerwagen abzuhalten. Es wurden wohl Sprengfallen platziert, Zivilisten in Geiselbunker gebracht.
Fest steht, fällt Rakka, ist der IS als staatenähnlicher Verband am Ende – ihm fehlt dann ein echtes Territorium. Ideologisch aber bleibt der IS ein Faktor – das wissen Rakkas Befreier. Noch ist der IS der gemeinsame Feind, das Monster, das dafür sorgt, dass Araber, Kurden, Turkmenen, Aramäer, Drusen, Armenier, Tscherkessen zusammen kämpfen. Doch was, wenn die Stadt erobert ist? Dem Kampf um Schützengräben, Plätze, Häuser folgt der Kampf um die Köpfe.
Kabar, der SDF-Kämpfer, spricht von einem freien, demokratischen und pluralistischen Syrien – jedenfalls soll das Land keine syrische arabische Republik, wie sie offiziell bis heute heißt, keine syrische kurdische Republik, sondern ein Staat werden, der auf der Liebe unter allen Syrern basiert.
Viel könnte im neuen Syrien von einem Mann abhängen, der nicht erst seit Dienstag über die Nachkriegsordnung nachdenkt – und nun den Kampf um die Köpfe führen will: Salih Muslim. Nur wenige Tage vor dem Sturm auf Rakka ist Muslim unter hohem Risiko in Europa unterwegs, spricht mit Exilkurden, Politikern, Sicherheitsexperten. In Berlin besucht er eine Konferenz – die Gäste haben Fragen an den womöglich starken Mann im Nachkriegssyrien.
Die Kurden sind das Rückgrat der SDF-Koalition
Salih Muslim ist einer der zwei Vorsitzenden der kurdisch-syrischen PYD, einer linken Partei, die der auch in Deutschland verbotenen kurdisch-türkischen PKK nahesteht. Hunderttausende unterstützen die PYD, die Statements von Salih Muslim werden selbst in den Exilgemeinden in Kanada, Russland, Australien verfolgt. Die PYD betreibt in Brüssel, Prag, Washington eigene Vertretungen. In Berlin hat sie zwar auch Vertreter, aber in Deutschland sind die Kurden vorsichtig, der Druck aus der Türkei auf die Bundesregierung ist groß. In Syrien kämpfen Zehntausende in der Miliz der PYD, den Volksverteidigungseinheiten YPG und den Frauenbataillonen YPJ – und sie sind das, was US-Soldaten als das Rückgrat der SDF bezeichnet haben.
Muslim ist ein kompakter Mann im Anzug, trägt orthopädische Schuhe mit dicken Sohlen, auf denen er bedächtig durch ein Institut in Berlin-Tiergarten läuft. Bevor er dort vor internationalen Gästen zum Syrienkrieg spricht, nimmt er einen Kaffee, setzt sich an den Rand des Konferenzsaals in einen Sessel und antwortet geduldig auf die Fragen: Wie geht es weiter, wenn der IS militärisch geschlagen ist? Soll angesichts des sechsjährigen Kriegs nicht doch der immer noch von vielen geduldete Staatschef Baschar al Assad an der Macht bleiben? Oder wird Syrien besetzt, in Einflusszonen der Amerikaner, der Russen, der Golfstaaten geteilt?
Syriens neue Ordnung, sagt Salih Muslim, die erhoffte Stabilität, werde nur kommen, wenn sich all die Stämme, Ethnien, Religionsgemeinschaften, Parteien, Milizen einigen, wenigstens absprechen: „Und nein, der Staat soll erhalten, nicht geteilt, nicht besetzt werden.“
Muslim, 1951 als Sohn armer Eltern in einem nordsyrischen Dorf geboren, ist eigentlich Ingenieur. An diesem Tag in Berlin schüttelt er die Hände fast aller Gäste, posiert für Fotos – an diesem Tag ist er wieder mal ein Polit-Star. Salih Muslim hat vor 25 Jahren mal in Saudi-Arabien gearbeitet. Von den islamistischen Diktaturen am Golf angewidert, vom syrischen Polizeistaat aber auch, schloss er sich in den Neunzigern kurdischen Oppositionellen an. Die Beamten Assads folterten ihn, Muslim floh in die kurdische Autonomieregion im Irak. Als 2011 der Krieg in Syrien begann, kehrte Muslim zurück – um letztlich jene politischen Kräfte zu einen, die nun Rakka befreien.
Salih Muslim: "Wir sind Kurden, aber auch Syrer"
Viele Kurden sind seit jeher säkular, mindestens aber laizistisch – Vorbehalte gegen den Glauben der Drusen, Jesiden, Christen oder Juden wie sie im Nahen Osten üblich sind, pflegten die Anhänger der PYD nie. Und so suchten Salih Muslim und seine Genossen gleich zu Kriegsbeginn nach Verbündeten. „Die SDF-Koalition, die in Rakka kämpft, könnte ein Modell für ganz Syrien sein“, sagt Muslim in Berlin. „Syrien, aber auch der Nahe Osten kann es nur als Föderation schaffen, als eine demokratische Koalition der Völker und Religionen.“
Die SDF sind eine Allianz aus Kurden der PYD, sunnitischen Arabern, den assyrischen Christen, in ihren Reihen kämpfen kurdische Jesiden genauso wie Muslime aller Spielarten, die vor Jahrhunderten aus dem Kaukasus nach Syrien kamen. Die SDF sind sozusagen die multikulturellen Bodentruppen, die sie unterstützende US-Armee ist die Luftwaffe. Zusammen könnten sie, so das Kalkül, den Islamischen Staat nicht nur militärisch besiegen, sondern als Befreier akzeptiert werden. Am Montag allerdings wurde bekannt, dass durch einen US-Luftangriff 21 aus der Stadt fliehende Zivilisten getötet worden sein sollen.
„Wir sind Kurden“, sagt Muslim. „Aber wir sind auch Syrer.“ Muslim möchte verhindern, dass Syrien zerfällt: im Westen die Russen mit Assad. Im Süden die Öl-Diktaturen mit islamistischen Stämmen. Im Norden die Amerikaner mit den Kurden. In Syrien sind 1000 bewaffnete Verbände aktiv. „Das Chaos“, sagt Muslim, „ginge weiter.“ Dies nützte letztlich den Brutalsten unter den Fraktionen.
Es gehe nun darum, sagt Muslim, alle Ethnien, alle Religionen einzubinden, die Interessen auszuhandeln und eine Föderation aufzubauen, in der die Vielfalt der Region berücksichtigt wird.
Salih Muslim: "Mein Sohn starb, weil er für sein Land kämpfte"
Eine Schweiz, ein Belgien mitten im Nahen Osten – kann das klappen? Muslim gibt sich optimistisch. Er kennt die Länder, in denen Demokratie und Vielfalt funktionieren. Seine Frau, die Söhne, die Tochter, sagt Salih Muslim, lebten immer noch in Kobane – die Stadt, aus der auch SDF-Kämpfer Sardar Kabar stammt.
Kobane liegt im Rojava genannten Norden Syriens. Das ist jenes Gebiet, das die Kurden seit dem Krieg als ihre Autonomieregion gegen den IS, aber auch Assad verteidigen. Eine laizistische, multiethnische Koalition erklärte Rojava für autonom, sie erhebt Steuern, betreibt Schulen. Selten gibt es Gefechte mit anderen Oppositionellen oder Soldaten Assads, öfter mit IS-Zellen.
Zu militärischen Fragen äußert sich der Vorsitzende auch wenige Tage vor dem Sturm auf Rakka nicht. „Wir trennen das Politische vom Militärischen“, sagt Muslim. „Abgesehen davon, dass das Sicherheitsfragen berührt.“
Auf seine eigene Sicherheit muss Salih Muslim achten. Ständig ist der Parteichef unterwegs, trifft Politiker in Brüssel, Paris, Berlin, wo er für das Nachkriegssyrien wirbt. Sich zu lange an einem Ort aufzuhalten, bedeutet allerdings auch, bessere Chancen für Attentäter. Nur wenige Syrer dürften so viele Verfolger haben wie er: Islamisten, den türkischen Geheimdienst, den syrischen, die Handlanger der Ölemirate, die seit jeher die Säkularen unter den Kurden fürchten.
Schon vor der Schlacht um Kobane 2014 ist sein Sohn Shervan in Syrien von Islamisten erschossen worden. Tausende kamen zur Beerdigung. „Mein Sohn wurde getötet, aber nicht weil er mein Sohn ist“, sagt Muslim. „Sondern weil er für Freiheit und sein Land kämpfte.“
Exilpolitiker wechseln ihre Handys - aus Sicherheitsgründen
Wo genau sich Muslim in dieser Woche aufhält, soll unbekannt bleiben. Die Spitzen der PYD, die Kommandeure der SDF, auch viele kurdische Exilfunktionäre wechseln ihre Handys, um nicht so leicht ortbar zu sein.
Nicht nur für den syrischen Präsidenten Assad ist Muslim ein Abtrünniger. Für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ist der Kurde ein Terrorist – die Staatsanwaltschaft in Ankara sucht ihn mit internationalem Haftbefehl. Der ist offenbar nur mäßig gut begründet, noch hat selbst die Bundesregierung nicht reagiert.
Das islamistische Reich, das sich neben den IS-Männern ja auch Ideologen in der Türkei, am Golf und in Nordafrika wünschten, steht vor dem Zerfall. „Aber Rakka ist nur ein Schritt, wenn auch ein wichtiger“, sagt Muslim. „Nun geht es um das syrische Volk, letztlich um Europa, um die Menschheit.“
Noch mal ein Anruf bei Sardar Kabar, dem SDF-Kämpfer aus Kobane. Neun Stunden sind seit Beginn der Offensive vergangen. Es kommt keine Verbindung zustande. Doch auf Facebook war er auch am Dienstag aktiv. Seine vorerst letzte Nachricht an die Welt: „Heute Morgen wurde der Thron des Islamischen Staates erschüttert.“