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Matthias Platzeck, SPD.
© dpa

Politiker in Deutschland: Was wäre, wenn Platzeck Kanzler wäre?

Ob Platzeck, Edathy oder Chatzimarkakis: Wir wissen erstaunlich wenig über die, die wir wählen. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Moritz Schuller

Es hätte auch anders kommen können: Wäre Matthias Platzeck 2006 nicht als SPD-Vorsitzender zurückgetreten und hätte sich die FDP ein bisschen intelligenter angestellt, könnte heute eine sozialliberale Koalition an der Macht sein. Der beliebte Platzeck wäre Kanzler, Jorgo Chatzimarkakis, ein erfahrener FDP-Mann aus Brüssel, vielleicht Bildungsminister, und Sebastian Edathy, geschulter NSU-Ausschussvorsitzender der SPD, wäre Innenminister. Alles durchaus denkbar.

Kontrafaktische Szenarien sind ein Hobby der Geschichtsschreibung. „Was, wenn Hitler 1930 bei einem Autounfall gestorben wäre“, fragt Richard Evans in seinem Buch „Veränderte Vergangenheiten“ (DVA). „Was, wenn Al Gore 2000 die amerikanische Präsidentschaftswahlen gewonnen hätte: Hätte der Irakkrieg trotzdem stattgefunden?“
Vermutlich hätte Matthias Platzeck bei den letzten Bundestagswahlen gegen Angela Merkel keine Chance gehabt, und es hätte mit der FDP nicht zu einer Mehrheit gereicht, vermutlich wären Edathys private Probleme auch so aufgeflogen, und Chatzimarkakis, dem als Plagiator der Doktortitel entzogen wurde, hätte kein politisches Comeback erlebt. Wir wissen nicht, wie die Wähler entschieden hätten. Wir wissen aber, dass diese Politiker durchaus einmal das Angebot ihrer Parteien an die Wähler waren. Die SPD war so von Platzeck überzeugt, dass sie ihn zum Vorsitzenden gemacht hat, die FDP hat Chatzimarkakis ins Parteipräsidium gewählt.

„Gemeinsam mit Merkel so viel Schwachsinn gemacht“

Matthias Platzeck verteidigt heute in jeder Talkshow Russland, und manchmal klingt er so, als ob er sogar Wladimir Putin und dessen Vorgehen verteidigt. Was hätte er also als Kanzler in Minsk vom russischen Präsidenten verlangen können, nachdem er schon im vergangenen November die völkerrechtliche Anerkennung der Krim-Übernahme gefordert hatte? War Platzeck schon immer so? Hatte er schon immer so wenig für demokratische Wahlen übrig, dass er sogar den Fatalismus zum Programm erhebt: „Was käme denn nach Putin, wenn der russische Präsident weg wäre?“
Jorgo Chatzimarkakis ist heute nicht deutscher Minister, sondern Sonderbotschafter der linken griechischen Regierung. Er, der lange Politik für eine liberale Partei gemacht hat, der für ein Programm von Marktwirtschaft und Leistungsbereitschaft Wahlkampf betrieben hat, plädiert heute für eine Streckung der griechischen Schulden auf 70 Jahre und Reparationszahlungen der Deutschen. Die teuren Rettungspakete nennt er „Demütigungen“. Die FDP hat er verlassen, weil sie „gemeinsam mit Merkel so viel Schwachsinn in der Euro-Krise gemacht“ hat. Die Partei, die so viele Wähler an die AfD verloren hat, gerade weil sie in der Euro-Frage mit Merkel gemeinsame Sache gemacht und dafür liberale Werte preisgegeben hat, bezeichnet Chatzimarkakis heute als „antieuropäisch“. War auch er schon immer so?

War der schon immer so?

Die kontrafaktische Perspektive ist interessant, weil sie sich eine Alternative vorstellt: Was wäre, wenn statt Angela Merkel ein Putinversteher im Kanzleramt säße? Doch Evans weist darauf hin, „auf welch dünnem empirischen Eis sich kontrafaktische Spekulationen häufig, vielleicht sogar in der Regel bewegen“. Über Sebastian Edathy wusste auch niemand etwas. Das ist in dem Rahmen, den das Strafgesetz vorgibt, richtig, weil sein Leben seine Privatsache ist. Gleichzeitig ist die Distanz zwischen Edathy und seiner eigenen Partei, die im Zuge des Skandals deutlich wurde, erstaunlich. Die SPD hat Edathy für den politisch heiklen Vorsitz des NSU-Untersuchungsausschusses nominiert, ohne recht zu wissen, wen sie in ihren Reihen hat. Denn Edathys Umgang mit dem Skandal, seine merkwürdigen Mitteilungen auf Facebook und öffentlichen Auftritte, ließen ebenfalls schnell die Frage aufkommen: War der schon immer so?

Vielleicht haben sie sich mit der Zeit verändert, so sehr, dass sie mit den Platzecks, Chatzimarkakis’ und Edathys von vorher nicht mehr viel gemein haben. Ein Einzelfall ist Platzeck in der SPD jedenfalls nicht: Denn was wäre gewesen, wenn Gerhard Schröder in Minsk Putin gegenübergesessen hätte? Oder Helmut Schmidt?
Matthias Platzeck ist nicht Kanzler geworden, sondern nur Ministerpräsident. Er ist aber ein Beispiel dafür, dass die meisten sehr wenig über ihn und über das, was er für richtig und falsch hält, gewusst haben – selbst in der eigenen Partei. Seine Auftritte heute machen erstaunlich deutlich, dass wir uns bei den Politikern, die wir wählen, auf sehr dünnem empirischen Eis bewegen.

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