„Das können wir uns nicht leisten“: Was wäre, wenn ein zweiter Lockdown nötig wird
Mit steigenden Infektionszahlen wächst die Sorge vor einem zweiten Lockdown. Was das bedeuten würde - und wie es sich verhindern ließe.
Leere Innenstädte, leere U-Bahnen, kaum Autos auf den Straßen: Die Tage, an denen in Deutschland das öffentliche Leben wegen des Corona-Lockdowns weitgehend zum Erliegen kam, sind noch nicht lange her. Eine Wiederholung will eigentlich niemand erleben. Doch in den letzten Tagen stieg die Zahl der Neuinfizierten deutlich an. „Die Entwicklung ist wirklich sehr beunruhigend“, sagt Lothar Wieler, Chef des Robert Koch-Instituts.
Ob das die viel zitierte „zweite Welle“ ist – Virologen können diese Frage nicht beantworten. Doch Politiker stellen bereits härteren Strafen bei Verstößen gegen die Corona-Regeln in Aussicht. Droht ein zweiter Lockdown? Was würde er bedeuten – politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich?
Der Grund, warum Wissenschaftlern wie Wieler die Entwicklung Sorgen macht, liegt nicht allein in der Entwicklung der Fallzahlen. Am vergangenen Freitag lag die Zahl der Neuinfektionen bei 815, während es Ende Juni und Anfang Juli etwa 300 bis 500 pro Tag waren.
Besorgniserregend ist auch, dass der Anstieg nicht mehr mit einzelnen Hotspots wie beispielsweise dem großen Ausbruch in Gütersloh zu erklären ist, sondern die Zahlen in der Fläche ansteigen. „Anders als noch vor einigen Wochen sehen wir jetzt viele kleinere Ausbrüche“, sagt der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit.
„Ein zweiter Lockdown muss auf jeden Fall verhindert werden“
Die Situation stelle die Gesundheitsämter vor eine Belastungsprobe. Schmidt-Chanasit hält es für wichtig, jetzt einen guten Überblick zu behalten, unkompliziert zu testen und gegebenenfalls Quarantäne anzuordnen. Dafür müssten aber Kapazitäten bei den Gesundheitsämtern vorgehalten werden.
„Wir müssen sehen, ob sich die Zahlen wegen der Lockerungen auf einem beherrschbaren Niveau von vielleicht 600 bis 800 Neuinfektionen pro Tag einpendeln, oder ob sie weiter steigen“, erklärt Schmidt-Chanasit. „Ein zweiter Lockdown muss auf jeden Fall verhindert werden."
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Virologen halten es für essentiell, dass die Bevölkerung weiter die sogenannte AHA-Regel einhält: Abstand, Hygiene, Alltagsmasken. Die Disziplin hat in jüngster Zeit gelitten. Sollte es wieder zu Einschränkungen kommen, würde aber wohl auch die Politik verantwortlich gemacht – vor allem wegen des Umgangs mit Rückkehrern aus dem Urlaub.
Einige von ihnen bringen das Virus mit nach Deutschland. Gesundheitsminister Jens Spahn hat zwar jetzt verpflichtende Tests für Rückkehrer aus Risikogebieten angeordnet, aber mittlerweile sind in manchen Bundesländern die Ferien schon fast vorbei.
Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring Eckardt kritisiert die mangelnde Vorbereitung der Bundesregierung. „Gesundheitsminister Spahn und viele Bundesländer haben offenbar nur bis zum Urlaub gedacht und nicht für die Zeit danach“, sagte sie dem Tagesspiegel. Man habe den Eindruck, Spahn und die Länder seien überrascht, dass die Menschen aus den Ferien zurückkehren.
So richtig es sei, für Rückkehrende aus Risikogebieten Tests vorzusehen, so fahrlässig sei es, dass es immer noch kein bundesweit einheitliches Test-Regime gebe. „Es droht wieder ein hektisches Fahren auf Sicht. Ich verstehe nicht, warum Bund und Länder sich nicht auf ein vorausschauendes und einheitliches Vorgehen verständigt haben, um eine zweite Welle zu verhindern.“ Gesundheitsminister Spahn sei in der Pflicht, dringend nachzulegen.
Vor dem Virus sind nicht alle gleich
Die gesellschaftlichen Folgen eines zweiten Lockdowns wären enorm. Experten gehen davon aus, dass wieder vor allem ärmere Menschen zu leiden hätten. Bereits im Hinblick auf die erste Phase der Pandemie hatte der Armutsforscher Christoph Butterwegge gesagt: „Menschen sind je nach ihrer sozioökonomischen Stellung unterschiedlich stark betroffen.“
[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden]
Georg Cremer, der von 2000 bis 2017 Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes war, verweist vor allem auf die Situation armer Kinder, für die ein neuer Lockdown eine Katastrophe wäre. „Sie fallen zurück, während es bürgerlichen Eltern bei aller Überlastung gelingt, ihre Kinder zu fördern, auch wenn Kitas und Schulen geschlossen sind“, sagt Cremer.
Sollte es noch einmal so weit kommen, hielte er es für „lebensnotwendig“, dass der Kontakt von Schulsozialarbeiterinnen und ehrenamtlichen Paten zu Familien in belastenden Lebensverhältnissen aufrechterhalten wird.
Für die Wirtschaft hätte ein zweiter Lockdown Experten zufolge wohl noch schlimmere Folgen als der erste. Schließlich haben die Unternehmen noch mit den Folgen des Shutdowns aus dem Frühjahr zu kämpfen: Insolvenzen, Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit.
Der Migrationsökonom Herbert Brücker rechnet aber nicht erneut mit einem weitgehenden Lockdown wie Mitte März. „Eher wird es je nach Infektionsentwicklung punktuelle Maßnahmen geben“, sagt er. Dann sei auch nicht mit einem neuen wirtschaftlichen Tal zu rechnen, sondern eher damit, dass sich der Aufschwung verzögert.
Auch Brücker verweist aber darauf, dass bestimmte Gruppen stärker von den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie betroffen sind als andere. Überdurchschnittlich hart treffe es Migranten. Diese seien oft in Kleinunternehmen mit weniger Kündigungsschutz beschäftigt und häufig im rasch wachsenden Sektor der Dienstleistungen, der durch Corona hart in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Wie ließe sich der zweite Lockdown verhindern?
Der FDP-Gesundheitspolitiker und Infektiologe Andrew Ullmann sagt klar: „Einen zweiten Lockdown können wir uns schlichtweg nicht leisten – wirtschaftlich nicht und gesellschaftlich ebenso wenig.“ Doch wie lässt er sich verhindern? Experten wie Schmidt-Chanasit sehen Vorbereitung als den Schlüssel.
Vorbereitung auf die Reiserückkehrer und auf den Schulbeginn. Ullmann glaubt, es brauche dringend eine nationale Pandemie-Präventionsstrategie der Bundesregierung, die klar und nachvollziehbar sei. Zudem fordert er einen Stresstest für das Gesundheitssystem sowie ein Konzept, wie die Wirtschaft und das gesamten Betreuungs- und Bildungssystem auf eine zweite Corona-Welle vorbereitet werden können.
Die SPD-Gesundheitspolitikerin Bärbel Bas fordert, dass der Zugang zu Corona-Tests vereinfacht wird. „Von 1,2 Millionen möglichen Tests pro Woche werden derzeit nur etwa 500 000 genutzt“, moniert sie. Und der Virologe Schmidt-Chanasit plädiert für mehr Augenmaß.
Er kritisiert pauschale und undifferenzierten Einschränkungen, die am Ende mehr schadeten als nutzten. „Wir müssen für jeden Bereich einzeln überlegen, wie Hygienekonzepte aussehen können“, sagt er. Das gelte etwa für den Club- betrieb sowie für die Prostitution. „Was nicht geht, ist, es komplett zu verbieten. Denn sonst geht es in die Illegalität und daraus resultiert eine viel größere Gefahr.“
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