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Bleibt er in Schloss Bellevue oder zieht er aus? Joachim Gauck will sich bald erklären
© Maurizio Gambarini/dpa

Wahl des Bundespräsidenten: Was passiert, wenn Gauck geht?

Schon bald will der Bundespräsident erklären, ob er wieder antritt. Wenn nicht, haben die Parteien ein Problem. Warum wäre es so schwer, einen Nachfolger zu finden?

Diesem Tag blickt das politische Berlin bang entgegen. Im Frühsommer will Joachim Gauck erklären, ob er für eine weitere Amtszeit als Bundespräsident zur Verfügung steht. Laut "Bild" hat er sich dagegen entschieden. Viele haben ihn aber gebeten, erneut anzutreten. Denn wer mit welcher Mehrheit zum Staatsoberhaupt gewählt wird, gilt hierzulande als hochpolitisches Signal, seit die FDP 1969 mit ihren Stimmen für den SPD-Kandidaten Gustav Heinemann den Auftakt zur sozialliberalen Koalition setzte.

Heute haben die etablierten Parteien wenig Interesse an einem solchen Signal, das zum Auftakt des Bundestagswahljahrs 2017 wie eine verdeckte Koalitionsaussage wirken würde. Sollte der 76-jährige Gauck aus Altersgründen nicht mehr kandidieren, hätten plötzlich ziemlich viele Parteiobere ein Problem.

Wie ist die Ausgangslage?

Lange sah es so aus, als würde Gauck sich selbst in die Pflicht nehmen. Die erregten Debatten über die Flüchtlingspolitik und die Zukunft Europas im Zeichen der Ausbreitung nationalpopulistischer Strömungen bereiten dem früheren Pastor und Chef der Behörde für die Stasi-Unterlagen ernste Sorgen. In dieser aufgewühlten Situation den Parteien nicht noch ein zusätzliches Problem zu bereiten, wäre ein ehrenwertes Motiv für eine zweite Amtszeit. Doch inzwischen wird bis in die Parteispitzen hinein bezweifelt, dass der Präsident weitermacht.

Seine Amtspflichten fallen ihm nicht immer nur leicht, und am Ende der nächsten Amtszeit wäre er mehr als 80 Jahre alt. Sich jetzt wählen zu lassen in der heimlichen Absicht, nach zwei, drei Jahren abzutreten, passt nicht recht zu seinem Amtsverständnis. Und die „italienische Lösung“ mit angekündigtem Rücktrittsdatum nach dem Vorbild des Staatsoberhaupts Giorgio Napolitano aus dem Jahr 2013 würde einer unstreitig komplizierten Situation den Anschein einer Staatskrise verleihen. „Das würde das Amt beschädigen“, heißt es aus der SPD-Führung. So müssen sich alle darauf einstellen, dass sie am 12. Februar nächsten Jahres im Reichstag jemand anderes an die Staatsspitze wählen müssen.

Welche Mehrheiten gibt es?

Dass diese Frage so kompliziert zu beantworten ist, liegt wesentlich an den Mehrheitsverhältnissen. In der Bundesversammlung gibt es rein rechnerisch zwei sichere Mehrheiten und eine unsichere. Gemeinsam hätten CDU, CSU und SPD keine Mühe, einen eigenen Kandidaten durchzubringen. Die große Koalition kommt auf eine satte Mehrheit von 931 Stimmen (von 1260). Das ergibt der Überblick des Wahlinformationsdienstes „election, de“. Komfortabel wäre auch eine schwarz-grüne Mehrheit in der Bundesversammlung. Union und Grüne zusammen haben 691 Vertreter – die Union 544, die Grünen 147. Diese Mehrheit kann durch die Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin im September nicht gefährdet werden.

Einfluss könnten die Landtagswahlen bei der unsicheren Mehrheit haben – die der Koalition links der Mitte. SPD, Grüne und Linke haben derzeit zusammen 628 Stimmen, drei weniger als die absolute Mehrheit, die in den ersten zwei Wahlgängen nötig ist. Im dritten Wahlgang würde es wohl reichen. Allerdings sitzen im Februar auch noch 13 Piraten-Vertreter in der Bundesversammlung, zwei weniger als nach aktuellem Stand, weil laut Umfragen davon auszugehen ist, dass sie nicht mehr ins Berliner Abgeordnetenhaus einziehen. Zudem gibt es einen Delegierten des Südschleswigschen Wählerverbands, der sozialdemokratisch ausgerichteten Partei der Dänen in Schleswig-Holstein. Addiert wären es somit 642 Stimmen, die ein Linkskandidat theoretisch bekommen könnte – so gesehen reichte es also auch im ersten Wahlgang schon.

Wo liegen die Risiken für die Parteien bei der Kür?

Die Auswahl einer geeigneten Persönlichkeit und das Schmieden einer Mehrheit für den eigenen Kandidaten gilt als eine der machttaktisch anspruchvollsten Aufgaben in der Politik. CDU-Chefin Angela Merkel hatte gleich zwei Mal keine glücklich Hand. Zwar setzte sie die Bundespräsidenten Horst Köhler und Christian Wulff durch. Aber beide traten vor der Zeit ab – Köhler aus Enttäuschung über mangelnde Unterstützung von Bundestag und Bundesregierung, Wulff wegen des Vorwurfs der Vorteilsnahme im Amt. Der heute so beliebte Gauck stand bei Merkel anfangs nicht hoch im Kurs. Hätte die FDP 2012 nicht auf die Koalitionsräson gepfiffen und sich auf die Seite von SPD und Grünen geschlagen – Gauck wäre nie Staatsoberhaupt geworden.

Auch heute ist die Lage für die CDU-Chefin nicht einfacher geworden. Geht Gauck, ist es an ihr, einen Vorschlag für die Nachfolge zu unterbreiten. Die SPD will sich zurück halten, bis Merkel aus der Deckung kommt. Die Kanzlerin hat drei Optionen: Sie kann einen parteilosen Kandidaten nominieren, der über alle Parteigrenzen hinweg Unterstützung in der Bundesversammlung findet und von dessen Wahl kein Koalitionssignal ausginge. Oder sie setzt auf Schwarz-Grün.

Dafür müsste sie enorme Risiken eingehen. Die CSU-Vertreter in der Bundesversammlung haben an einem halboffenen Koalitionsangebot an die Grünen so wenig Interesse wie der wegen der Flüchtlingspolitik ohnehin unzufriedene konservative Flügel der CDU. In geheimer Wahl könnte mancher Merkel-Kritiker versucht sein, gegen ihren Vorschlag zu stimmen. Eine Niederlage Merkels wenige Monate vor der Bundestagswahl würde als machtpolitisches Menetekel gedeutet.

Bleibt als dritte Variante die Möglichkeit, gemeinsam mit dem Koalitionspartner SPD eine Kandidatin oder einen Kandidaten auf den Schild zu heben. Das Problem: Einen aktiven Unionspolitiker wie Bundestagspräsident Norbert Lammert würde die SPD keinesfalls mittragen. Die Sozialdemokraten scheuen vor der Bundestagswahl ohnehin jedes großkoalitionäre Signal. Würden sie in der Bundesversammlung für einen Kandidaten wie Lammert die Hand heben, könnte das an der Parteibasis wie eine Bewerbung um eine Fortsetzung der Juniorpartnerschaft unter Merkels Führung wirken.

Anders verhielte es sich, wenn Merkel einen Sozialdemokraten vorschlagen würde. Seit Monaten im Gespräch ist SPD-Publikumsliebling Frank-Walter Steinmeier. Alle halten ihn für einen guten Kandidaten, der das Land würdig repräsentieren würde, nach innen wie nach außen. Und Steinmeier kennt die Regeln des politischen Betriebs. Auch traut er selbst sich das höchste Amt im Staate durchaus zu. Trotzdem sind seine Chancen bescheiden. Denn so wenig wie die Sozialdemokraten einen Unions-Kandidaten akzeptieren mögen, so wenig sind die Vertreter von CDU und CSU geneigt, das Bundespräsidialamt der schwächelnden SPD zu überlassen. Merkel soll SPD-Chef Sigmar Gabriel bereits erklärt haben, sie könne Steinmeier bei ihren Leuten nicht durchsetzen. Noch gibt es allerdings in der SPD Hoffnung, die Kanzlerin werde es sich noch anders überlegen. Das Argument: Falls Steinmeier ins Schloss Bellevue einziehe, verliere die SPD einen ihrer populärsten Politiker.

Warum kein gemeinsamer Kandidat von SPD, Grüne und Linkspartei?

Völlig ausgeschlossen ist ein solcher Versuch nicht, aber unwahrscheinlich. Denn Rot- Rot-Grün hat in der Bundesversammlung allenfalls mithilfe der Piraten eine knappe Mehrheit. Die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns ist groß und würde vor allem der SPD angelastet. „Das wäre ein Hoch-Risiko-Spiel“, heißt es in der Parteispitze. Aber nicht nur deshalb ist die Begeisterung für die Idee gering, eine Kandidatin oder eine Kandidatin zu präsentieren, die oder der im Erfolgsfall als Vorbote einer Koalition mit der Linkspartei gelten würde.

Denn die Zeit für Rot-Rot-Grün im Bund sei noch nicht reif, heißt es. Trotzdem könnte die SPD sich genötigt fühlen, mit der Linkspartei in der Bundesversammlung gemeinsame Sache zu machen – wenn sie sich von einem schwarz-grünen Kandidaten in die Defensive gedrängt fühlt und dagegenhalten will.

Die Linkspartei jedenfalls setzt die SPD schon einmal unter Drucl. Nach Ansicht ihres Vorsitzenden Bernd Riexinger sollten Linke, Sozialdemokraten und Gürne einen gemeinsamen Bewerber für die nächste Bundespräsidentenwahl aufstellen. Als Reaktion auf einen Bericht der "Bild"-Zeitung, wonach Amtsinhaber Joachim Gauck kein zweites Mal antreten wird, verlangte Riexinger vor allem den Sozialdemokraten einen rot-rot-grünen Konsenskandidaten ab: "Wenn (SPD-Chef) Sigmar Gabriel es ernst meint mit einem politischen Kurswechsel, wäre das ein wichtiges Signal", sagte er der "Mitteldeutschen Zeitung". "Dafür müsste jemand gefunden werden, der für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit steht." Riexinger forderte SPD und Grüne auf, mit der Linkspartei Gespräche über eine gemeinsame Kandidatin oder einen Kandidaten aufzunehmen.

Welche Lösung ist denn dann denkbar?

Realistisch vorstellbar sind derzeit zwei Szenarien. Das erste wäre eine Art Wusel-Wahl: Jeder oder fast jeder stellt einen Bewerber auf, und dann warten alle mal ab, wie sich das Feld im ersten und zweiten Wahlgang sortiert. Bleiben zwei Personen übrig, die sich Hoffnung machen können, eine Mehrheit zu erhalten, könnte im dritten Wahlgang ein Staatsoberhaupt stehen, von dem keiner genau sagen kann, wer seine Wähler waren.

Eine Variante wäre, dass jemand vor dem dritten Wahlgang noch einen Überraschungskandidaten hervorholt. Die Wusel-Wahl hat freilich den Nachteil, dass sich keines der politischen Schwergewichte von CDU, CSU oder SPD für solch ein Experiment anbieten würde. Weder ein Wolfgang Schäuble noch eine Ursula von der Leyen, weder ein Norbert Lammert noch ein Steinmeier würden ohne vorherige Absprachen ins Feld gehen.

Bliebe die Möglichkeit eines „unpolitischen“ Kandidat – unpolitisch im Sinne von Parteiensoldatentum. Einen renommierten Vertreter der Bürgergesellschaft, aus Wissenschaft oder Justiz könnten alle etablierten Parteien unterstützen, ohne dass sich daraus Vorfestlegungen für die Bundestagswahl ableiten ließen. Konkrete Namen gibt es bisher nicht.

Aber in welche Richtung die Suche gehen könnte, hat Merkel schon bei der letzten Wahl dokumentiert: Um Gauck zu verhindern, rief die Kanzlerin beim Verfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle an. Der sagte ihr damals ab – Voßkuhle war gerade erst frisch in dem Amt, dem er zudem mehr gestaltenden Einfluss auf die Politik zumaß als dem Ehrenamt im Schloss Bellevue – wie er gezeigt hat, zu Recht. Aber nach fünf Jahren in Karlsruhe würde es sich der 52-Jährige ja vielleicht noch mal überlegen.

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