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Nach dem Abzug der USA übernahmen die Taliban das Flugfeld von Kabul.
© REUTERS

Zurückgelassene Ortskräfte in Todesangst: Was nach dem Abzug vom Afghanistan-Einsatz bleibt

Der Afghanistan-Einsatz dauerte 20 Jahre, das Ende war dramatisch. Wie geht es dort weiter? Und welche Lehren ziehen die USA und Deutschland daraus?

Generalmajor Chris Donahue war der letzte US-amerikanische Soldat, der afghanischen Boden verlassen hat. Ein Foto zeigt, wie der Kommandeur der 82. Luftwaffendivision der US-Armee kurz vor Mitternacht am Montag ein Transportflugzeug betritt. Der Einsatz der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan ist nach fast genau 20 Jahren Geschichte.

Wie ist die Lage am Flughafen von Kabul nach dem Abzug?

Nachdem das letzte US-Flugzeug abgehoben hatte, marschierte die Taliban-Spezialeinheit „Badri 313“ demonstrativ auf dem Flugfeld auf. „Glückwunsch an Afghanistan, dieser Sieg gehört uns allen“, sagte Taliban-Sprecher Sabihullah Mudschahid, als er auf der Landebahn des Flughafens stand. Die Taliban wollten seinen Angaben zufolge gute Beziehungen zu den USA. „Wir begrüßen gute diplomatische Beziehungen mit allen“, sagte er.

Die Sicherheitskräfte der Taliban seien „sanftmütig und nett“, betonte Mudschahid. In Kabul und in anderen Teilen des Landes feierten die Taliban und ihre Anhänger den endgültigen Abzug der ausländischen Truppen. In Kandahar strömten Tausende Menschen auf die Straßen, schwenkten Fahnen und riefen „Gott ist groß“.

Wie geht es für die zurückgelassenen Ortskräfte weiter?

Viele von ihnen und ihre Familien harren in Todesangst in Verstecken aus – kein Wunder angesichts von Berichten über Übergriffe, Vergewaltigungen und Tötungen von Zivilisten durch Taliban-Kämpfer, die auch von den Vereinten Nationen bestätigt wurden.

Im Gegensatz dazu bemüht sich die politische Führung der Taliban darum, der internationalen Gemeinschaft ein neues, milderes Bild ihrer im Aufbau befindlichen Herrschaft über das Land zu präsentieren. Der deutsche Diplomat Markus Potzel steht in ständigem Austausch mit dem Politischen Büro der Taliban in Doha und hat von diesem die Zusage erhalten, dass Afghanen mit Pass und Visa weiter ausreisen dürfen.

Wie das praktisch gehen soll, ist offen – Außenminister Heiko Maas (SPD) bemüht sich in Nachbarstaaten um eine Lösung. Die Bundesregierung setzt darauf, dass die Taliban ausländisches Geld brauchen und nach internationaler Anerkennung streben – und dafür auch bei den Ortskräften Zugeständnisse machen müssen. Ob die Taliban-Kämpfer tatsächlich eine liberale Ausreisepraxis umsetzen werden, kann niemand vorhersagen.

Was bedeutet der Abzug für die USA?

Zunächst einmal ist das Ende dieses längsten US-Militäreinsatzes eine Last, die abfällt. Eine Mehrheit der Amerikaner ist wie ihr Präsident davon überzeugt: Dieser Schritt war überfällig.

Milliardenkosten, mehr als 2400 getötete US-Soldaten und fast 50.000 afghanische Zivilisten – insgesamt starben Schätzungen zufolge 240.000 Afghanen – gehören zur Bilanz dieses Krieges, der kurz nach den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 begonnen hatte und nun damit endet, dass der Gegner, gegen den die Amerikaner und ihre Verbündeten in den Kampf zogen, wieder das ganze Land beherrscht.

Taliban-Anhänger feiern in Chaman den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan.
Taliban-Anhänger feiern in Chaman den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan.
© AFP

Aufatmen kann die Regierung von Joe Biden, weil die Evakuierungsmission, mit der seit dem 14. August mehr als 122000 Menschen außer Landes gebracht werden konnten, ohne weitere schwere Zwischenfälle abgeschlossen wurde. Der Anschlag von Donnerstag, unter anderem 13 US-Soldaten getötet wurden, bleibt aber eine schwere Belastung.

Zudem musste die Regierung eingestehen, dass nicht jeder gerettet werden konnte, der ausgeflogen werden wollte. Neben Zehntausenden Ortskräften warten auch bis zu 200 Amerikaner weiter auf ihre Evakuierung.

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Biden hatte versprochen, alle rauszuholen, die rauswollten. Die Republikaner nutzen dies bereits, um Stimmung gegen den Präsidenten und die Demokraten zu machen.

Nicht ausgemacht ist indes, wie Biden langfristig dafür beurteilt werden wird, dass er den Abzug nach fast 20 Jahren nun tatsächlich durchgeführt hat. Manche Kommentatoren argumentieren er, sei der Einzige, der sich getraut habe, tatsächlich abzuziehen.

Bei einer Rede am Dienstag verteidigte der Präsident den Abzug demonstrativ und kündigte Konsequenzen für künftige militärische Einsäte an: Amerika müsse nicht gegen die Bedrohungen von 2001, sondern gegen die von 2021 und darüberhinaus verteidigt werden.

Künftige Einsätze müssten klare, erreichbare Ziele haben, forderte Biden. Sie müssten sich außerdem „auf das grundlegende nationale Sicherheitsinteresse“ der USA konzentrieren. In Afghanistan hätten die USA erlebt, wie eine Mission zur Terrorismusbekämpfung sich in einen Einsatz zur Aufstandsbekämpfung, zum Aufbau einer Nation und zur Schaffung eines demokratischen, zusammenhängenden und geeinten Landes verwandelt habe. Das sei etwas, das in der jahrhundertelangen Geschichte Afghanistans nie erreicht worden sei. „Wenn wir diese Denkweise und diese Art von großangelegten Truppeneinsätzen hinter uns lassen, werden wir zu Hause stärker, effektiver und sicherer sein.“

Die Evakuierungsmission sei ein „Erfolg“, sagte Biden weiter. Kein anderes Land sei zu so etwas in der Lage. „90 Prozent der Amerikaner in Afghanistan, die ausgeflogen werden wollten, konnten das tun.“ Für den Rest gebe es keine Deadline, man werde sie rausholen, wenn sie das wollten.

Welche Lehren zieht die deutsche Politik aus dem Einsatz?

Nach dem Schock von Kabul ist eine Lehre weitverbreitet: Beim nächsten Mal müssten Ziele, Möglichkeiten und vor allem Grenzen vorher besser abgewogen werden. Bescheidener heranzugehen, riet kürzlich Ex-Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU). Und wenn Außenminister Maas am Dienstag feststellt, dass Militäreinsätze grundsätzlich nicht geeignet seien, „um langfristig eine Staatsform zu exportieren“, wird ihm im Moment sicher niemand widersprechen.

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Auf Militär als ein Mittel der Außenpolitik völlig verzichten wollen die meisten Parteien trotzdem nicht. Maas schränkte denn auch gleich ein: Um eine terroristische Bedrohung abzuwenden, einen Krieg oder die Verletzung von Menschenrechten zu beenden, blieben Auslandseinsätze legitim. Aus der Sicht von Außen- und Sicherheitspolitikern der Union kommt deutsches oder europäisches Interesse als mögliche Begründung dazu.

Dass die Bundeswehr so schnell wieder aus Bündnistreue zu den USA ausrücken würde, wie das 2001 geschah, ist allerdings schwer vorstellbar. Dafür sitzt der Frust zu tief über einen Verbündeten, der noch im überstürzten Rückzug „America first“ praktizierte. Gut möglich, dass das ganz automatisch zu mehr Bescheidenheit führt: Ohne die stärkste Militärmacht des Westens sind große Einsätze gar nicht denkbar.

Was bedeutet der Einsatz für die Zukunft der Bundeswehr?

Für die militärische wie die politische Führung birgt das Ende der Afghanistan-Mission eine bittere Lektion: Auf sich allein gestellt wäre die Bundeswehr am Hindukusch vom ersten bis zum letzten Tag überfordert gewesen.

Selbst im Verbund mit europäischen Nato-Partnern hätte es nicht einmal zur Evakuierung aus Kabul gereicht. Dieser Befund beunruhigt Experten vor allem deshalb, weil seine Konsequenzen über die Frage nach Auslandseinsätzen hinausreichen.

Die USA, merkt etwa Nora Müller an, die bei der Körber-Stiftung für internationale Politik zuständig ist, zögen sich nicht nur weltweit, sondern auch aus der Nachbarschaft Europas als Ordnungsmacht zurück. Im Syrien-Krieg oder beim russischen Überfall auf die Krim schaute die Weltmacht ostentativ weg.

Die Europäer sind also selbst gefordert. Es werde jetzt „noch stärker darum gehen, in Ressourcen zu investieren, die den Europäern ermöglichen, Einsätze wie die Evakuierungsmission aus Kabul auch ohne die Unterstützung Washingtons durchzuführen“, sagt Müller.

Innenpolitisch ist damit ein Streit programmiert, für den das Hin und Her um bewaffnete Drohnen nur einen Vorgeschmack liefert. Denn populär sind Milliardeninvestitionen ins Militär nicht.

Bisher sind Ideen wie eine 5000 Mann und Frau starke europäische Eingreiftruppe auch an den Einzelinteressen gescheitert. Russlands Nachbarn im Baltikum oder in Polen setzen lieber auf die Nato. Doch nach dem Debakel von Kabul haben die Befürworter beim Verteidigungsministerrat am Mittwoch und Donnerstag ein Argument mehr.

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