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Bei einer Gedenkfeiern trauern die Versammelten um die Todesopfer des rechtsradikalen Terroranschlags in Hanau.
© imago images/Patrick Scheiber

Nach den Morden von Hanau: Was jeder gegen die Verrohung tun kann

Wenn auf Trauerbekundungen keine Taten folgen, war die Trauer verlogen. Was Staat und Gesellschaft jetzt leisten müssen. Ein Gastbeitrag.

Deniz Utlu ist Schriftsteller und freier Autor. Zuletzt erschien von ihm der Roman „Gegen Morgen“ (Suhrkamp).

Ein enger Freund rief an und fragte, was er für mich tun könne. So habe ich von dem Attentat in Hanau erfahren. Das war eine wichtige Geste. Mehr als das: Ich weiß, dass er ernst meint, was er sagt.

Ich habe mich in der Bahn, mit der ich unterwegs war, als er anrief, umgeschaut: Die Atmosphäre war nicht anders als sonst. Vielleicht wussten die meisten noch nicht Bescheid. Aber ich hörte von einigen Freunden, dass der Anschlag weder im Büro noch im Smalltalk nach dem Yoga ein Thema gewesen sei.

Für einen Augenblick hat mich das zurückversetzt in das Jahr 2011, als sich der NSU selbstenttarnt hatte und die große Erschütterung in der Gesellschaft und Politik ausblieb. Ich sah die Menschen mit ihren Hunden Gassi gehen oder beim Joggen und konnte nicht begreifen, wie sich die Erde einfach weiterdrehen kann.

In den Monaten und Jahren danach, heute noch, lösen Informationen über jene Zeit oft Erstaunen aus. Etwa wenn es darum geht, dass ein Verfassungsschützer bei einem Mord dabei war oder dass die Polizei Wahrsager engagierte, weil sie sich davon mehr erhoffte als von Ermittlungen in der Nazi-Szene.

Trauer als Schnittstelle von Politik und Menschlichkeit

Vielleicht liegt das daran, dass die Wirklichkeit sich manchmal nur ertragen lässt, wenn sie an den schmerzhaftesten Stellen verdrängt wird. Vielleicht aber auch daran, dass die einen Leben weniger zählen als die anderen. Oder es ist eine Mischung aus beidem. Was es auch ist: Beides ist das Gegenteil von einer solidarischen Gesellschaft.

Im Gegensatz zur Selbstenttarnung des NSU gab es jetzt überall in Deutschland Demonstrationen. Im Gegensatz zu damals wurde nicht sofort geleugnet, sondern Kanzlerin und Bundespräsident haben den Rassismus benannt, der unsere Gesellschaft zersetzt.

[Über alle Entwicklungen zu Hanau halten wir Sie mit unserem Liveblog an dieser Stelle auf dem Laufenden]

Und doch gibt es Räume, die unerreicht bleiben von dem, was geschehen ist, in denen die Trauer ausbleibt. Vielleicht weil Menschen wegsehen wollen, weil es schwer zu ertragen ist, vielleicht weil es sie nicht berührt.

Dabei ist Trauer womöglich die ehrlichste Schnittstelle von Politik und Menschlichkeit. Vielleicht die einzige emotionale Form von Politik, die mit Vernunft vereinbar ist. Eine Trauer, die über strategische Bekundungen hinausgeht, ein politischer Beistand. Maßgebend für eine solche Politik müsste zunächst die Perspektive der Angehörigen sein.

Vielleicht sollten wir die Namen der Opfer auswendig lernen

Eine Gesellschaft wird allerdings nicht von heute auf morgen unsolidarisch. Das Fehlen von Empathie und die Unfähigkeit zu trauern sind das Ergebnis tiefgreifender gesellschaftlicher Prozesse, die sich nicht einfach umkehren lassen.

Am Tag nach der Mordnacht von Hanau versammelten sich die Menschen in der Stadt. Viele hielten Bilder der Getöteten in der Hand.
Am Tag nach der Mordnacht von Hanau versammelten sich die Menschen in der Stadt. Viele hielten Bilder der Getöteten in der Hand.
© AFP

Und doch kann jede einzelne Person dafür etwas tun, der Verrohung entgegenzuwirken, indem sie sich dazu befragt, was diese Gewalt in ihr ausgelöst hat: die Ermordung von Ferhat Ünvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtovic, Said Nessar El Hashemi, Mercedes Kierpacz, Fatih Saraçoglu, Koljan Welkow, Sedat Gürbüz und Vili Viorel Păun.

Das sind die Namen der Opfer des Hanau-Attentats, wie ich sie im sozialen Netz gefunden habe. Wir können damit anfangen, dass wir sie auswendig lernen. Es sind die Namen von Menschen, die in dieser Gesellschaft aus rassistischen Gründen ermordet worden sind.

Das hat mit uns allen etwas zu tun.

Allerdings reicht weder das Auswendiglernen von Namen, noch reichen Demonstrationen und Trauerbekundungen. Eine Gesellschaft ist dann solidarisch, wenn ihre Mitglieder aufeinander aufpassen, sich umeinander kümmern. Es gibt viel dazu zu sagen, wofür die Bundesregierung jetzt sorgen muss: nämlich jede Möglichkeit nutzen, alle Ressourcen aufwenden und zum obersten Staatsziel machen, dass kein weiterer Mensch in diesem Land von Nazis umgebracht wird.

Es müssen Taten folgen, sonst ist die Trauer verlogen

Maximaler Schutz sofort. Dazu gehört zunächst die Offenlegung von wichtigen Dokumenten. Insbesondere die Akten des hessischen Landesverfassungsschutzes zu den NSU-Morden, die unter Verschluss sind.

Dazu gehört eine Entnazifizierung der Behörden, man denke an die rassistischen Drohbriefe an die Anwältin Seda Basay-Yildiz, die zur hessischen Polizei zurückverfolgt werden konnten. Auch braucht es Verfahren, um Menschen mit nationalsozialistischem Gedankengut aus den Parlamenten herauszubekommen, weil das mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht vereinbar ist.

Wenn auf die Trauerbekundungen keine Taten folgen, dann war die Trauer verlogen. Jeder rassistische Mord ist Indiz für die Verletzung der staatlichen Schutzpflicht und für die Erosion des Menschlichen.

Hinweis der Redaktion: Wir hatten in einer früheren Version des Artikels Bilal Gökçe als eines der Opfer genannt. Gökce lebt laut übereinstimmenden Berichten und war zum Tatzeitpunkt nicht in der Shisha-Bar. Wir bitten das zu entschuldigen.

Deniz Utlu

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