Herkunft, Politik, Zuhause: Was heißt hier Heimat?
Das Innenministerium soll unter Horst Seehofer künftig auch für Heimat zuständig sein. Bleibt zu klären, was das ist. Sechs Versuche.
Verlusterfahrung, Hilflosigkeit und Fremdheit
Edgar Reitz, Filmemacher („Heimat“)
Als ich vor über 30 Jahren für mein Hunsrück-Epos den Titel „Heimat“ wählte, hoffte ich inständig, dass die hinter diesem oft missbrauchten Begriff lauernde Gartenzaun-Mentalität niemals mehr in unserem Lande auftauchen wird. Jetzt erhebt sie wieder ihr Spießergesicht und versucht, das schöne deutsche Wort politisch aufzuladen und mit Drohgebärde alles Fremde vom Grundstück zu jagen. Der Gedanke, dass sich jetzt sogar ein Ministerium für Heimat zuständig machen soll, erscheint mir haarsträubend in einer Zeit, in der dieser Begriff von Verlusterfahrung, Hilflosigkeit und Fremdheit erzählt, die Millionen Menschen erleiden. In meinen Filmen ist die Heimat immer ein offenes Haus, in dem auch die verlorenen Kinder willkommen sind. Es schmerzt, zu sehen, dass nun versucht wird, die Heimat zu einem gnadenlos verschlossenen Rückzugsort der Angst zu machen, um den man die Grenzen der Arroganz und der Gleichgültigkeit zieht. Ein Sieg der bayerischen „Mir san mir Mentalität“ über unser Land – ist das wirklich der Wille der Menschen?
Freunde, Geborgenheit, Berlin
Reinhard Mey, Liedermacher
Heimat ist immer, wo wir Freunde finden, wo jemand auf dich wartet, ist zu Haus. Das schrieb ich in einem Lied. Und genau das ist es, so einfach!
Ich hatte das Glück, in meinem Leben viel zu reisen, und ich bin weit herumgekommen. Wo immer ich war, hab ich mit Freude ein paar Brocken der Landessprache gelernt und mich schnell eingelebt, überall in der Fremde habe ich mich wohlgefühlt und so manches Mal gedacht, an diesem Flecken könntest du gut für immer bleiben. Unter dieser Sonne wirst du den grauen Himmel nicht vermissen, zwischen Lavendel und Jasmin wird dir die Berliner Luft nicht fehlen.
Aber dann auf der Rückreise, gleich auf der Brücke von Kehl, kam immer dieses unerklärliche, gute Gefühl der Geborgenheit, eine kindliche Freude beim Anblick scheinbar völlig nebensächlicher Kleinigkeiten: Das Autobahnschild ist blau, die Streifen auf der Straße sind weiß, die Ziegel auf den Dächern haben ein ganz anderes Rot, der Mann an der Tankstelle spricht einen wohlvertrauten Dialekt, hier kenne ich mich wirklich aus, hier gehöre ich hin.
Sicher war da auch unbewusst der Gedanke: Hier kann ich in Freiheit leben, so, wie ich es will, hier umgibt mich die Verlässlichkeit der Nachbarn und ja, hier habe ich Vertrauen in Demokratie und Rechtsstaat, hier bin ich in Sicherheit.
Das Vertraute ist es, die wohlbekannten Bilder, die Geräusche, das Licht sind es, die uns dieses Gefühl Geborgenheit geben. Und dann die Gerüche: Schon lange, bevor ich heimkomme, sagt mir dieser unverwechselbare Duft der Kiefernwälder auf dem märkischen Sand rund um Berlin, noch eine Stunde, dann hast du’s geschafft, bald bist du am Ziel.
„Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein“, das ist Heimat. Sich heimisch fühlen, heimkommen, zu Hause sein, das ist Heimat. Unsere Tochter, die für eine Weile in England heimisch ist, schickte mir neulich ein Selfie, auf dem ich im Hintergrund eine Teetasse entdeckte, auf der stand: „Home is where my Mum is!“ Ja, Heimat, so einfach ist das!
Was Heimat alles nicht ist
Ingo Schulze, Schriftsteller
Versuche ich, über die Beflissenheit zu sprechen, mit der Horst Seehofer den Begriff „Heimat“ zum Attribut seines Innenministeriums machen will, drängt sich förmlich ein ironischer Unterton auf, der aber nicht weiterhilft. Zudem muss ich gestehen, bisher nicht bemerkt zu haben, dass es seit Kurzem in Bayern und Nordrhein-Westfalen bereits Ministerien gibt, die den Begriff „Heimat“ in ihrer Benennung und demzufolge auch in ihrem Zuständigkeitsbereich tragen. Wahrscheinlich bin ich nicht der Einzige, der Schwierigkeiten hat, wenn er den Begriff Heimat erklären soll. Mir ergeht es damit ähnlich wie mit dem Begriff Seele. Sobald ich ihn näher bestimmen soll, löst er sich in Wörter auf, die eine zutreffendere und genauere Beschreibung ermöglichen und ihn überflüssig machen. Aber auch als nichtgläubiger Mensch will und kann ich nicht auf die Bezeichnung „Seele“ verzichten, insbesondere dann, wenn ich das, was ich unter „Seele“ verstehe, vermisse. Seelenlos bezeichnet etwas anderes als herzlos oder gefühllos. Heimat ist etwas anderes als Geburts- oder Wohnort. Heimatlos bedeutet etwas anderes als obdachlos.
Im Grunde könnte man Horst Seehofer dankbar sein, weil er die Erklärung des Begriffes auf sich genommen und Heimat zur Chefsache gemacht hat. Er und seine Ministeriumsmitarbeiter werden zwangsläufig durch ihre Arbeit in den nächsten Monaten oder zumindest im Laufe dieses Jahres herausfinden, wie diese Heimat aussieht, die in ihren Verantwortungsbereich fällt. Es wird etwas sein, das sich jenseits von der inneren Politik, der Verwaltung, dem Sport und dem Wohnungsbau befindet, aber auch etwas, das jenseits der Aufgaben der anderen Ministerien liegt, in denen über Arbeit und Soziales, über Wirtschaft und Verteidigung, über Bildung und Erziehung nachgedacht wird.
Und natürlich hat es auch nichts mit den Aufgaben einer Kulturstaatsministerin zu tun, die sich, wie es der Name schon sagt, im weitesten Sinne um kulturelle Fragen zu kümmern hat. Ich beneide Horst Seehofer und seine Getreuen nicht um die Aufgabe, die sie sich da aufgeladen haben. Und obwohl ich in einer Polytechnischen Oberschule in Dresden immerhin vier Jahre lang im Fach „Heimatkunde“ unterrichtet worden bin, kann ich ihm auch nicht recht weiterhelfen, weil die dort beschriebene Heimat eine andere war als jene, die wir heute bewohnen. Da hätte es nicht mal geholfen, wenn anstelle von Geografie auch in den höheren Klassen weiter Heimatkunde betrieben oder das Fach für die Grundschüler nicht durch „Sachkunde“ ersetzen worden wäre.
Wir, die wir außerhalb von Horst Seehofers Ministerium stehen, können zum Gelingen seiner Unternehmung eigentlich nichts beitragen. Aber wir können immerhin den Erwartungsdruck von ihm nehmen und Argumente für den Fall sammeln, dass die Sache mit der Heimat nicht so gelingt. Dann lässt sich behaupten, dass es keinesfalls an ihm oder seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gelegen hat, sondern daran, dass unsere Heimat einfach nicht in ein Ministerium passt, ja, dass sie dort im Grunde nichts zu suchen hat. Oder hat jemand noch eine andere Idee?
Herkunft, Ort und Identität
Beatrice Kramm, Filmproduzentin („Traumschiff“) und Präsidentin der Berliner Industrie- und Handelskammer
Berlin ist die Heimat von 300.000 Unternehmen – Berlin ist unsere Heimat. Die Stadt verleiht Menschen und Produkten eine eigene Identität. Sie ist Heimat von „Freiheit“, „Offenheit“ und „Multinationalität“. Berlin ist auch ein Ort, an dem Menschen unterschiedlicher Herkunft eine Heimat finden können. Heimat definiert sich also aus der Frage, wie wir unsere Herkunft definieren und sie mit unserer Identität in Verbindung setzen.
Heimat kennt keine Grenzen. Im Gegenteil. Isolation ist schädlich, nicht nur für das Zusammenleben der Menschen, sondern für die wirtschaftliche Entwicklung unserer Stadt. Exportorientierte Unternehmen sind für unsere Stadt bedeutend – Internationalität ein entscheidender Standortfaktor. Wenn Berlin seine Offenheit für Menschen aus aller Welt verliert, verliert es seinen Markenkern.
Aber Heimat ist mehr als ein Ort. Wie bei Menschen ist Heimat auch für Unternehmen identitätsstiftend. Für ihre Entwicklung ist es wichtig, sich mit der Heimat bewusst auseinanderzusetzen – so entfaltet sie schöpferische Kraft. Besonders große Wirkung entfaltet Heimat allerdings jenseits der eigenen Grenzen – in der sogenannten Fremde, wenn sie durch andere Identitäten reflektiert und bereichert wird. Genau darum sind besonders erfolgreiche Unternehmen und Menschen in der Welt zu Hause.
Gerade deutsche Unternehmen sind erfolgreich darin, ihre Heimat als Marke zu inszenieren. „Made in Germany“ ist nicht nur eine Herkunftsbezeichnung, sondern ein Versprechen für Qualität und Ingenieurskunst. Ob aber ein BMW tatsächlich in Deutschland oder den USA gebaut wurde, ist weniger bedeutsam als die Frage, ob er den Erwartungen des Kunden an einen Autohersteller deutscher Heimat gerecht wird. Darum ist es mein Ziel als Präsidentin der IHK Berlin, den Begriff „Made in Berlin“ als ergänzende, eigene weltweite Marke weiter zu etablieren.
„Heiliger Matsch“ - oder Hoffnung, Behausung, Verwurzelung
Katja Lange-Müller, Schriftstellerin
Es ist typisch, wenn nicht gar archetypisch, dass ausgerechnet ein CSUler, also ein Bayer, genauer ein Bajuware, nun allen Bundesbürgern, auch den naturgemäß Bayern-fernen Berlinern oder – um es bayrisch auszudrücken – den „Saupreußen“, ein Heimatministerium verordnet hat. Aber brillierte nicht schon vor Jahren der kein bisschen CSU-verdächtige bayrische Kabarettist Gerhard Polt mit dem wunderbar absurden Satz „Heimat, wo ist dein Zuhause?!“ und legte so den Finger nicht auf, nein, in die Wunde.
Im Sinne der Dialektik, die wir ostdeutsch Sozialisierten trotz der Marx widersprechenden Ereignisse, die dann folgten, ja immer noch draufhaben, stehen die Begriffe Heimat und Globalisierung einander antagonistisch gegenüber; das zumindest ist unbestreitbar.
Heimat, dies Wort war hierzulande, in Ost und West, lange Zeit verdächtig, es hatte, wie die Schwaben sagen, „ein Geschmäckle“. Eine meiner Freundinnen, Schriftstellerin wie ich, meinte einmal, HeiMat sei wohl die Abkürzung von „Heiliger Matsch“, während ich darüber sinnierte, ob der Ausdruck nicht eventuell von einer maritimen Katastrophe herrühren mochte; irgendetwas mit Hai und einem Maat, der ins Meer gefallen ist. Auch dachte ich dabei an ein Küchenlied, das meine Oma manchmal sang: „Da rief sie, Heimat, süße Heimat, wann werde ich dich wiedersehn…“
Aber mittlerweile, vielleicht, weil ich selbst schon ziemlich reif bin und oft genug irgendwo fremd war, belustigt mich dies bedeutungsschwere Wort nicht mehr so sehr. Heimat, das ist der Ort, an dem wir aufgewachsen sind – und meinetwegen verwurzelt, denn wir ähneln diesbezüglich doch eher Bäumen als etwa Orchideen, die biologisch zu den Luftwurzeln gehören. Und da das Innenministerium, dem der Herr Seehofer, wenn alles glattgeht, demnächst vorsteht, nicht nur um das Ressort Heimat, sondern auch um das Ressort Bau erweitert wird, keimt in mir die Hoffnung, dass sich daraus eventuell auch sesshaftigkeitsfördernde Aktivitäten ergeben, konkret: Mietwucherbekämpfung, Anti-Gentrifizierung, sozialer Wohnungsbau. Eine Heimat haben oder finden kann schließlich nur der behauste Mensch. „Die Hoffnung“, hat Oma gerne gesagt, „stirbt zuletzt.“ „Aber sie stirbt“, habe ich, damals noch altklug und skeptisch, hinzugefügt; nun jedoch hoffe ich aus tiefstem Herzensgrund, dass sie es nicht tut, sondern wächst und gedeiht – in Gestalt ganz vieler schöner Häuser voller bezahlbarer Wohnungen, sogar in München, Hamburg, Berlin.
Liebe - und Sicherheit
Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern
Heimat ist ein großes Wort. Es steht für die Sehnsucht nach Geborgenheit, Zugehörigkeit, Orientierung und Sicherheit – letztlich: Liebe. Man möchte seine Heimat lieben, und für viele ist Heimat dort, wo man geliebt wird.
Einige verbinden Heimat einzig mit geliebten Menschen, mit Familie und Freunden. Das könne überall sein und sich jederzeit ändern. Andere verbinden mit Heimat selbstverständlich den Ort ihrer Herkunft, ihrer Kindheit und Jugend, ihrer Wurzeln.
Jüdische Menschen in Deutschland waren nach dem Holocaust mit der Frage konfrontiert, ob das damals sogenannte Land der Mörder je wieder Heimat sein könne – sein dürfe. Als Kind hatte ich München ganz natürlich geliebt: die Stadt, die Seen, die Berge, die bayerischen Traditionen, die Gerüche, die Geräusche. Doch ich verlor meine Heimat. München hatte mich ausgespuckt, verstoßen, war Feindesland geworden, in dem mir tödliche Gefahr drohte. Die Münchner, die Deutschen hatten uns ausgegrenzt, angefeindet, diffamiert, verraten.
Ich fand eine Zuflucht in einer fränkischen Bauernfamilie. Nach meiner persönlichen Befreiung aus Versteck und falscher Identität schien mir eine Rückkehr, gar eine Heimkehr unmöglich.
Aber so ist das Leben: Es kommt anders. Heute ist München wieder meine Heimat. Es fühlt sich nicht selbstverständlich an – ist es auch nicht. Aber ich spüre es. Es ist das warme Gefühl beim Anflug auf den Münchner Flughafen. Es ist das unbeschreibliche Glück, das ich jeden Morgen spüre, wenn ich am St.-Jakobs-Platz mitten in der Münchner Altstadt ankomme und das neue Gemeindezentrum, die neue Synagoge sehe. Ich habe gelernt, dass es auf gepackten Koffern keine Heimat geben kann. Ich kann die Trauer und den Schmerz ob der geliebten ermordeten Menschen in der Schoah nicht auslöschen. Aber man kann lernen, neu zu vertrauen und zu hoffen. Umso schmerzhafter ist es, wenn Antisemitismus, Gleichgültigkeit und Geschichtsvergessenheit dieses ebenso gewagte wie verletzliche Vertrauen in Zweifel ziehen. Meine Hoffnung ist, dass Deutschland sich für die jüdische Menschen heute als echte Heimat erweist. Eine, die Geborgenheit gibt, Gemeinschaftlichkeit und Sicherheit.
Katja Lange-Müller