Russland vs. Nato: Was gelten schon Verträge?
In der Ukraine schweigen die Waffen, doch der Westen befürchtet von Moskau unterstützte Provokationen in russischen Nachbarstaaten - und einen Angriff der Separatisten auf Mariupol.
Westliche Regierungen und die Nato bereiten sich auf die Möglichkeit vor, dass Russlands Präsident Wladimir Putin und die von Russland unterstützten Separatisten in der Ukraine und anderswo sich nicht an vertragliche Abmachungen halten und in weiteren Regionen Konflikte schüren, zum Beispiel in Moldawien und den Baltischen Staaten. Sie sondieren Maßnahmen, mit denen sie darauf reagieren. Großbritannien und die USA wollen mehr Militärberater in die Ukraine schicken. Die Nato verstärkt ihre Präsenz im Baltikum und hält Manöver dort ab. Das Bundesverteidigungsministerium überprüft die Ausrüstungspläne für die Bundeswehr und erwägt nach einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“, mehr Panzer und andere Waffensysteme beizubehalten, als die bisherigen Planungen vorsehen.
International ist das Misstrauen gegen Putin aufgrund der Erfahrungen mit der vor zwei Wochen in Minsk vereinbarten Waffenruhe in der Ostukraine noch einmal deutlich gewachsen. Der Mittwoch war der bisher einzige Tag, an dem keine der Konfliktparteien Tote in ihren Reihen meldete. Die weit überwiegende Zahl des Bruchs ausgehandelter Bedingungen legen westliche Beobachter Russland und den Separatisten zur Last. US-Außenminister John Kerry sagte bei einer Anhörung im US-Kongress, die russische Regierung und die Separatisten hielten sich nicht an die Vereinbarungen. Putin verfolge eine Politik, die alle internationalen Normen zum Schutz der territorialen Integrität eines Staates verletze. Er habe in den ostukrainischen Regionen Luhansk, Donezk und Debalzewe „die Landnahme direkt erlaubt, dazu ermutigt und sie erleichtert“, indem er die Separatisten militärisch und organisatorisch unterstütze.
Der Nato-Oberbefehlshaber in Europa, Philip Breedlove, warf Russland vor, weiteres schweres Militärgerät in die Ostukraine zu bringen, darunter „über tausend Kampffahrzeuge, russische Truppen“ sowie „Luftverteidigung und Artillerie“. Das wäre ein krasser Bruch des Minsker Abkommens, das den Rückzug schwerer Waffen verlangt. Die OSZE wurde in Minsk beauftragt, die Bewegung von Waffen und Truppen zu überwachen. Die Separatisten hindern die OSZE-Beobachter jedoch daran. Militärexperten vermuten, dass die Separatisten mit russischer Unterstützung einen Angriff auf die Stadt Mariupol vorbereiten und einen Landkorridor zur Halbinsel Krim erobern wollen.
Moldau im Fokus
Breedlove warnte zudem vor einem russischen Angriff auf die Republik Moldau, die zwischen der Ukraine und dem EU-Mitglied Rumänien liegt und die Annäherung an die EU verfolgt. Ein Teil des Staatsgebiets, Transnistrien, ist seit Jahren von russischen Truppen besetzt. Mit diesen Truppen, einer Desinformationskampagne und Druck auf führende Politiker in Moldawien wolle Moskau das Land von der Annäherung an den Westen abhalten, sagte Breedlove. Auch Elmar Brok (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Europäischen Parlament, warnt, dass Russland gemeinsam mit moldauischen Oligarchen die Annäherung an die EU hintertreibe.
In Estland hatten am Dienstag rund hundert britische, spanische, lettische und litauische Soldaten an einer Militärparade zum Unabhängigkeitstag teilgenommen. Auch zwei US-Panzerfahrzeuge und mehrere niederländische Panzer beteiligten sich an der Parade in Narva, einer Grenzstadt zu Russland mit hohem russischen Bevölkerungsanteil. Aus Sicht der Nato dienen gemeinsame Manöver der Warnung an Russland, eine Destabilisierung wie in der Ostukraine in den Baltischen Staaten, die Mitglied der Allianz sind, erst gar nicht zu versuchen. Russland reagierte mit offensiven Manövern nahe der Grenze, darunter dem massenhaften Absprung von Fallschirmjägern. Seit Monaten üben russische Streitkräfte Angriffsaktionen auf Nato-Gebiet.
Litauen hat als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt. In der Kleinstadt Jonava trainierten einheimische Truppen die Abwehr. Soldaten stürmten einen von „feindlichen Truppen“ besetzten Industriekomplex und schützten ein öffentliches Gebäude vor den Übergriffen einer aufgestachelten Meute.
Großbritannien wird 75 Militärausbilder in die Ukraine schicken. Sie werden nicht in den Kriegsgebieten eingesetzt, betonte Premier Cameron, sondern in Kiew die Armeespitze beraten, da diese Mängel in der Truppenführung zeige.
Ziel all dieser Aktivitäten ist es, die Kosten weiterer Aggression für Russland zu erhöhen. Zudem soll der russischen Bevölkerung klargemacht werden, dass ihr Land aktiv Krieg führt. Bisher bestreitet Putin das und verschweigt zum Beispiel die aus der Ukraine heimkehrenden Gefallenen, weil ein offener Krieg gegen ein slawisches Brudervolk wie die Ukrainer unter Russen unpopulär ist.