Eskalation im Libanon: "Was die Politik uns mit Gewalt genommen hat, werden wir uns mit Gewalt zurückholen"
Die Geduld der Demonstranten ist erschöpft, die friedliche Stimmung schlägt um. Fast 400 Verletzte sind die Bilanz der Nacht zum Sonntag.
Gegen 19 Uhr libanesischer Zeit beginnen zahlreiche Kirchen in Beiruts Zentrum ihre Glocken zu läuten, gleichzeitig meldet sich der Imam des größten islamischen Gotteshauses der Hauptstadt, der Mohammed-Al-Amin Moschee, über die Außenlautsprecher zu Wort. Eine ungewöhnliche, fast gespenstische Szene. Sowohl um die Kirchen als auch um die Moschee toben im selben Augenblick die schwersten Straßenschlachten, die Beirut seit Beginn der Demonstrationen im Oktober 2019 miterleben musste.
Vergeblich versuchen die Gotteshäuser, Demonstrierende und Sicherheitskräfte zur Vernunft zu bringen, doch in „Downtown“-Beirut, dem Regierungsviertel der Hauptstadt, herrscht längst Chaos.
Seit nunmehr drei Monaten gehen die Menschen im Libanon auf die Straße, um gegen Korruption, Misswirtschaft und ihre führende, politische Klasse zu demonstrieren.
Konnte die Protestbewegung zunächst einige Erfolge verbuchen, wie etwa den Rücktritt des ehemaligen Premierministers Saad Hariri rund zwei Wochen nach Beginn der Demonstrationen, sind viele Libanesen und Libanesinnen mit dem Beginn des neuen Jahres in Hinblick auf die politische Zukunft ihres Landes immer pessimistischer geworden. Der designierte Premierminister und Universitätsprofessor Hassan Diab versucht sich mittlerweile seit mehr als einem Monat an der Bildung eines neuen Kabinetts.
Das libanesische System sieht die Postenverteilung nach religiösem Proporz vor. Diese Regelung sollte einst Gerechtigkeit zwischen den vielen verschiedenen Konfessionen im multireligiösen Libanon schaffen, wird heutzutage bei der Bevölkerung aber vor allem als fortschrittshemmend angeprangert. Gleichzeitig befürchten viele Einwohner des Zedernstaates, dass die alten, politischen Gesichter auch die neuen sein werden. Zwar versprach Diab mehrmals, Technokraten in seinem neuen Kabinett zu berücksichtigen, die etablierten Parteien scheinen diesen Plan jedoch nicht mittragen zu wollen.
Ihab war lange für friedlichen Protest. Das ist vorbei.
Ihab Hallab ist 23 Jahre alt, kommt aus Libanons zweitgrößter Stadt Tripoli und ist seit Tag Eins der Demonstrationen auf der Straße. Auch er fühlt sich von der Politik nicht mehr ernst genommen. Hatte sich die libanesische „Oktoberrevolution“ anfänglich vor allem durch ihre Gewaltfreiheit und friedliche Atmosphäre ausgezeichnet, wich bei vielen bereits im Dezember der Optimismus und die Stimmung bei den Protesten schlug um. Immer häufiger kam es zu Ausschreitungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Ihab gehörte lange zu jenen, die sich für einen friedlichen Protest und einen menschlichen Umgang mit Polizei und Armee einsetzten, mittlerweile befürwortet auch er Gewalt: „Nach 95 Tagen ignoriert uns die Politik nach wie vor, es gibt zum jetzigen Zeitpunkt keine andere Möglichkeit als die Gewalt. Wir müssen ernst genommen werden.“ Der Wirtschaftsstudent, der selbst vier Jahre für das Libanesische Rote Kreuz gearbeitet hat, zeigt sich schockiert über das Ausmaß und die Schwere der Verletzungen von Demonstranten am Samstagabend. „Neben mir hat jemand sein Augenlicht verloren. Diese Person ist jetzt auf einem Auge blind.“ Der 23-Jährige prangert dabei vor allem die Gewalt der Sicherheitskräfte an. Und tatsächlich belegen diverse Aufnahmen, die in den sozialen Netzwerken kursieren, Gewalt seitens der Polizei, teilweise ohne jeglichen erkennbaren Grund.
Einmal mehr rückten dabei die libanesische Bereitschaftspolizei sowie die Parlamentspolizei in den Fokus. Sie waren bereits in der Vergangenheit durch unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt aufgefallen. Beiden Einheiten wird eine gewisse Nähe zu Parlamentsparteien nachgesagt. Die Parlamentspolizei ist dem schiitischen Sprecher des Parlaments und Vorsitzenden der Amal-Partei, Nabih Berri, unterstellt. Eine der Hauptfeindbilder der libanesischen Massenbewegung. So waren in der Liveberichterstattung des lokalen Fernsehsenders MTV mehrfach Steine werfende Polizisten zu sehen. Nach Informationen der Samir Kassir Stiftung, einer unabhängigen Organisation, die sich für Pressefreiheit im Libanon einsetzt, wurden unter anderem Kamerateams der Fernsehsender Al Jadeed und LBC, wie schon in der vergangenen Woche, von Sicherheitskräften angegriffen und attackiert. Auch sollen erneut die Zelte der Protestbewegung auf dem zentralen Märtyrerplatz durch Angehörige der Bereitschaftspolizei niedergebrannt worden sein.
Polizei zielt mit Tränengas-Kanülen auf Demonstranten
Offizielle Stellen dementierten später, auf Aufnahmen sind jedoch behelmte Polizisten zu sehen, wie sie Benzin über das Protestcamp gießen. Andere auf Twitter verbreitete Videos zeigen Beamte der Bereitschaftspolizei, wie sie Tränengas- Kanülen gezielt auf Demonstranten schießen. Der Einsatz von Tränengas ist eigentlich ausschließlich bei einem Winkel von 45 Grad und mehr erlaubt, um schwere bis tödliche Verletzungen durch die Kanülen zu verhindern. Im Laufe des Abends kam es schließlich zum vermehrten Einsatz von Gummigeschossen, um die Demonstranten auseinanderzutreiben. Zahlreiche Menschen wurden dabei auch im Gesicht getroffen, das libanesische Rote Kreuz spricht von mehr als 200 Verletzten auf beiden Seiten. Die Nachrichtenagentur AFP berichtet von knapp 400 Verletzten und bezieht sich ebenfalls auf das Rote Kreuz und die Zivilschutzbehörde.
Beamte sollen im Krankenhaus attackiert worden sein
Aber auch die Sicherheitskräfte beklagten eine erhöhte Gewaltbereitschaft der Protestierenden. So sollen verletzte Beamte noch in Krankenhäusern attackiert worden sein. Beweise für Attacken dieser Art gibt es jedoch bisher nicht. Der 23-jährige Ihab gibt jedoch offen zu, dass die Demonstranten kein Problem mehr mit Gewalt gegenüber Sicherheitskräften haben: „Was auch immer die Politik uns mit Gewalt genommen hat, werden wir uns auch mit Gewalt wieder zurückholen.“
Am späteren Samstagabend rückte erneut ein Gotteshaus in den Fokus. Stundenlang harrten hunderte Menschen in der Mohammed-Al-Amin Moschee aus, darunter viele Frauen und Kinder, um sich vor der Polizei und den Tränengasnebel zu schützen. Gleichzeitig wurden auf dem Gebetsteppich dutzende Verletzte durch Helfer des Roten Kreuzes behandelt. Gegen 21 Uhr begannen die Sicherheitskräfte Tränengas auch direkt in den Innenraum der Moschee zu schießen. Es kam zu chaotischen Szenen. Nur durch Verhandlungen des Imams mit den Behörden konnten wenig später alle Personen das Gotteshaus sicher und ohne drohende Verhaftungen verlassen.
Die Proteste gehen auch am Sonntag weiter
Ihab will mit mit seinen Freunden an diesem Sonntag wieder auf die Straße gehen, unter anderem um die Freilassung aller verhafteten Demonstranten der vergangenen Nacht zu fordern. „Wenn wir einen Schritt zurückgehen, werden wir alles verlieren. Das hier ist kein Witz, das ist eine Revolution. Wir werden die Straße nicht verlassen, bis unsere Forderungen erfüllt worden sind.“
Julius Geiler
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