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Vorbereitung aufs Regieren: Was die Grünen aus 1998 lernen können

Für das aktuelle Führungsduo der Grünen lohnt sich ein Blick zurück: Wie war das, als man 1998 erstmals an die Regierung kam?

Jürgen Trittin kann sich noch gut an die ersten Tage als Umweltminister der rot-grünen Bundesregierung erinnern. Vier Jahre Regierung hatte er damals schon hinter sich – in Niedersachsen. Doch schnell habe sich gezeigt: „Regieren auf Bundesebene ist etwas ganz anderes.“ Trittin sitzt in seinem Bundestagsbüro, die parlamentarische Sommerpause hat gerade begonnen, der Höhenflug seiner Partei ist ungebrochen. Der Grünen-Politiker ist immer noch der lange Schlaks von früher, nur die Haare sind inzwischen grauer geworden. Er habe feststellen müssen, dass die Erfahrungen der Landesebene sich nicht eins zu eins übertragen ließen, sagt Trittin. „Der Lobbydruck war sehr viel größer, die Schlagzahl höher, wir standen unter schärferer Beobachtung.“ Die ersten 100 Tage seien ein Lernprozess gewesen.

Eine solche Erfahrung würde heute vermutlich auch Annalena Baerbock und Robert Habeck bevorstehen. Die Grünen-Chefs wollen die Partei in die nächste Bundesregierung führen, egal ob es vorgezogene Neuwahlen gibt oder die Wahl erst 2021 stattfindet. In der Bundesgeschäftsstelle bereiten Mitarbeiter Koalitionsverhandlungen vor, auch die Bundestagsfraktion überarbeitet die Papiere aus den Jamaika-Sondierungen. Doch der Realitätsschock wäre heute wohl der gleiche wie vor 21 Jahren – auch wenn Habeck Regierungserfahrung aus Schleswig-Holstein mitbringt, Baerbock über Bundestagsexpertise verfügt und beide sich seit Amtsantritt an eine Aufmerksamkeit gewöhnt haben, die mit jedem Prozentpunkt in den Umfragen steigt.

Schaut man sich die Vorbereitung der Grünen auf die Regierung an, gibt es einige Parallelen zu 1998. Das fängt beim Machtwillen der Protagonisten an. Ohne den Willen eines Joschka Fischer wäre die erste grüne Regierungsbeteiligung im Bund nicht möglich gewesen, sagt sein langjähriger Vertrauter Rezzo Schlauch. Er selbst war zu rot-grünen Zeiten Mittelstandsbeauftragter, heute ist er als Berater mit Kanzlei in Stuttgart tätig, manchmal hat er Termine in Berlin. Zeit für ein Gespräch im Café Einstein.

„Fischer war Treiber, Trittin hat abgesichert“

Schlauch weiß noch genau, wie Fischer ankündigte, sein Amt als Landesminister in Hessen aufgeben und die Partei 1994 wieder in den Bundestag führen zu wollen. „Da war klar: Der hatte was vor“, sagt Schlauch. Bei der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 waren die Westgrünen aus dem Bundestag geflogen. Und auch 1998 musste die Partei zwischenzeitlich wieder um die Fünf-Prozent-Hürde bangen. Fischer war es, der in diesen Jahren in der chronisch zerstrittenen Partei den Frieden mit dem Frontmann des linken Flügels, Jürgen Trittin, suchte. Der wiederum nahm die eigenen Leute mit. „Fischer war Treiber, Trittin hat abgesichert“, sagt Schlauch.

Es braucht mehr als nur das Ökothema

Die Grünen hätten die vier Jahre nach dem Wiedereinzug in den Bundestag außerdem genutzt, ein stärkeres Profil in Themenfeldern aufzubauen, in denen ihnen nicht viel Kompetenz zugesprochen wurde, Wirtschaft etwa oder Haushalt. „Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht und einigermaßen realitätstaugliche Konzepte erarbeitet", sagt Schlauch. Es war die Zeit von Fachpolitikern wie der Steuerexpertin Christine Scheel oder dem Haushälter Oswald Metzger, die sich später als Motor der rot-grünen Reformpolitik verstanden.

Heute versuchen Baerbock und Habeck wieder, mit einem Programm jenseits der Ökofrage durchzudringen. Sie haben außerdem einen ähnlich ausgeprägten Machtwillen wie Fischer, allerdings kommt er softer daher. An den Gittern des Kanzleramts rütteln, wie einst Gerhard Schröder, würden beide niemals. Auch die alten Flügelstreitigkeiten spielen unter dem Grünen-Duo gerade keine allzu große Rolle. Ob diese Harmonie allerdings anhalten würde, wenn ein Parteitag über einen Koalitionsvertrag abstimmen müsste, ist eine andere Frage.

Doch bei allen Parallelen gibt es auch Unterschiede zu 1998. „Heute sind die Grünen im Land angekommen. Das waren wir damals noch nicht“, sagt Lukas Beckmann. Der Grünen-Mitbegründer hat die Häutungen der Partei miterlebt: Er war Bundesgeschäftsführer, schon bevor die Grünen 1980 offiziell Partei wurden, einer von drei Vorstandssprechern, die damals noch nicht Parteichefs heißen durften, langjähriger Geschäftsführer der Bundestagsfraktion.

"Wir haben gewusst, dass eine andere Zeit beginnt"

In einem Café in Berlin erzählt er von einem Moment aus dem Oktober 1998, der ihm im Gedächtnis geblieben ist: Im Bundestag hatten die grünen Minister gerade ihren Amtseid abgelegt, als die Abgeordneten zu ihrer ersten Sitzung als Regierungsfraktion zusammenkamen. Es habe eine ganz besondere Atmosphäre geherrscht. „Alle spürten, dass wir Verantwortung für dieses Land übernehmen und nicht mehr nur für die eigenen Themen“, sagt Beckmann. „Wir haben gewusst, dass eine andere Zeit beginnt.“

Auch Renate Künast glaubt, dass die Grünen heute niemandem mehr erklären müssten, „dass wir für Deutschland stehen“. Zu rot-grünen Zeiten war sie erst Abgeordnete, dann Parteichefin, später Verbraucher- und Landwirtschaftsministerin. Auf die Regierungsvorbereitung der Grünen angesprochen, fällt ihr das Buch „Risiko Deutschland“ ein, das Joschka Fischer ein Jahr, bevor er Außenminister wurde, veröffentlichte. „Seine Kernbotschaft an die Gesellschaft war, dass wir deutsche Interessen vertreten können und wollen“, sagt Künast.

In der Außenpolitik hatten die Grünen da schon einen langen Weg hinter sich. Beim Sonderparteitag zum Jugoslawien-Krieg 1993 warb Daniel Cohn-Bendit relativ einsam für eine militärische Intervention im Balkan. Beim Parteitag in Bremen zwei Jahre später sprachen sich mehr als ein Drittel der Delegierten für friedenserzwingende Einsätze aus. Und doch war es eine Zäsur, als SPD und Grüne sich nach Regierungsantritt zu der Entscheidung durchrangen, zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg deutsche Soldaten in einen Nato-Kampfeinsatz in den Kosovo zu schicken.

Dabei hatte es wenige Monate vor der Bundestagswahl noch Zweifel an der Regierungsfähigkeit der Grünen gegeben. SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder bezeichnete die Grünen im Frühjahr 1998 als „Risiko“ für den Machtwechsel. Kurz zuvor hatte ein Parteitag in Magdeburg beschlossen, der Preis für den Liter Benzin solle auf fünf Mark in zehn Jahren steigen. Die Parteibasis lehnte damals außerdem den Vorschlag des Parteivorstands ab, den Bundeswehr-Einsatz in Bosnien zu unterstützen. Die Grünen müssten „den Realitätstest“ bestehen, ermahnte Fischer anschließend seine Parteikollegen in Interviews. Er sprach von einem „schwierigen Transformationsprozess“ von der Oppositions- zur Regierungspartei.

Künast hat aus den Regierungsjahren vor allem eine Lehre gezogen. Ein Wahlergebnis mit einer Mehrheit im Parlament bedeute noch lange nicht, dass eine Gesellschaft mitmache, was diese Mehrheit wolle, sagt sie. „Ich habe gelernt, dass man Bündnisse schließen und das Gespräch suchen muss.“ Es ist ein Gedanke, der sich nun auch wieder durch die Reden der Grünen-Chefs zieht. Habeck spricht von einer veränderten Rolle für seine Partei: Die Grünen müssten raus aus der Nische und aus dem Zentrum der Gesellschaft Politik machen.

Anders als 1998 können sich Baerbock und Habeck ihren Regierungspartner nicht aussuchen. Damals traten SPD und Grüne gemeinsam an, die Regierung Kohl abzulösen. „Im Vorfeld der Wahl haben wir uns das SPD-Programm auf Gemeinsamkeiten angeschaut“, sagt Trittin. „Beide Seiten gingen davon aus, dass wir das Gleiche wollen“, sagt er. Doch das habe sich als „Illusion“ erwiesen. Im Regierungsgeschäft folgten harte Auseinandersetzungen selbst um Projekte wie den Atomausstieg, die im Koalitionsvertrag vereinbart waren.

Die Euphorie für das rot-grüne Projekt ist verflogen

Von der damaligen Euphorie für das „rot-grüne Projekt“ haben die Grünen sich inzwischen weit entfernt. Nachdem es drei Mal nicht für eine Neuauflage des Bündnisses gereicht hatte, änderten sie die Strategie. 2017 schlossen sie kein Bündnis aus und verhandelten mit Union und FDP über Jamaika. Manche bei den Grünen würden pathetisch von Verantwortung sprechen. Trittin bringt den Kurs auf die lapidare Formel: „Irgendwer muss das Land ja regieren.“

Der frühere Umweltminister hat erlebt, dass man fürs Regieren manchmal auch einen Preis bezahlen muss. Zwischen 1998 und 2002 hätten die Grünen 15 Landtagswahlen verloren und ihr Ergebnis bei der Europawahl halbiert. „Viele Wähler haben sich abgewendet, wegen des Kosovo-Kriegs und Verzögerungen beim Atomausstieg“, sagt Trittin. Gut möglich, dass die Grünen auch heute in einer Regierung einen Dämpfer erhalten würden.

Doch aus Trittins Sicht hat es sich damals ausgezahlt, die Nerven zu behalten und weiter an der Umsetzung grüner Projekte zu arbeiten. Auf dem Schrank in seinem Bundestagsbüro steht ein Schwarz-Weiß-Foto, es zeigt Trittin, damals noch mit Schnauzer, wie er auf einer Bühne steht, umringt von Parteifreunden. Es war der Parteitag im Mai 2002 in Wiesbaden, die Gesetze zum Atomausstieg waren nach langen Kämpfen in Kraft getreten. Eine schöne Erinnerung – das findet Trittin noch heute.

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