Daniel Ziblatt zu AfD und deutscher Demokratie: Was der Tabubruch von Thüringen lehrt
In Deutschland herrscht kein Chaos wie im politischen System der USA. Doch auch hierzulande werden die Spaltungen im politischen System gefährlicher. Ein Essay.
Daniel Ziblatt ist Professor für Regierungslehre an der Harvard Universität. Zusammen mit Steven Levitsky schrieb er zuletzt den Bestseller "Wie Demokratien sterben".
Das politische Erdbeben in Thüringen vergangene Woche und der Nachhall in der deutschen Politik – der Rücktritt der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, das Chaos in der FDP, spontane Proteste in zentralen deutschen Städten und eine ernste Rede des Bundespräsidenten – lassen es so erscheinen, als befinde sich Deutschland als Insel politischer Stabilität im Belagerungszustand.
Während die deutsche Politik versucht, sich vom Thüringer Chaos zu entfernen, müssen wir dieses Narrativ jedoch nuancieren. Wenngleich das politische System schwerwiegenden Belastungen ausgesetzt ist, haben die Ereignisse auch gezeigt, dass die deutsche Demokratie bisher bemerkenswert widerstandsfähig war.
Alle politischen Systeme, auch das deutsche, setzen nicht nur auf geschriebene Regelungen und eine geschriebene Verfassung, sondern auch auf ungeschriebene Gesetze. Sozialwissenschaftler nennen sie „demokratische Normen“. Ein wertvolles ungeschriebenes Gesetz im Nachkriegsdeutschland, das die Demokratie maßgeblich gestärkt hat, schreibt vor, rassistische und rechtsradikale Parteien von der Macht fernzuhalten.
In der Praxis werden deshalb Parteien, die sich „verfassungswidriger“ Rhetorik oder Verhalten auch nur nähern, als politisch und gesellschaftlich Ausgestoßene behandelt. Ja, ihnen werden zwar parlamentarische Rechte gewährt. Und ihre Wähler und Abgeordneten werden mit der politischen Toleranz behandelt, die jeder Bürger verdient.
Doch etablierte Parteien sind weder formell noch informell dazu verpflichtet, mit Extremisten zu kooperieren, wie Bundespolitiker der Grünen, SPD und CDU gerne betonen. Dass Verfassungsfeinde von Regierungsposten ferngehalten werden müssen, ist weit verbreiteter gesellschaftlicher Konsens.
Artikel 79, 21 und 18 des Grundgesetzes schreiben die formellen Ausschlussverfahren vor. Aber diese Artikel sind so mächtig, dass sie nun zu komplex sind, um benutzt zu werden. Die ungeschriebenen Gesetze der deutschen Politik sind deshalb – so wichtig die formellen Aspekte der Verfassung auch sind – fast genauso wichtig. Diese Werte schreiben vor, dass Gruppen und Parteien, selbst wenn sie nicht offiziell als „verfassungswidrig“ eingestuft werden, keinen Anspruch darauf haben, als Koalitionspartner angesehen zu werden, wenn sie „nicht die grundlegenden Werte einer liberalen Demokratie respektieren“.
Wie steht es heute um diese Norm? Sie bleibt weiterhin robust. Als Thomas Kemmerich die Unterstützung der AfD akzeptierte, brach er sicherlich ein Tabu, ein ungeschriebenes Gesetz. Um zu sehen, wie mächtig dieses Tabu ist, reicht es nicht, den Bruch zu erkennen, sondern die gesellschaftliche Reaktion darauf muss analysiert werden.
Die an Thüringen Beteiligten zahlen dafür einen politischen Preis
In der Woche nach Kemmerichs Wahl gab es einen Sturm von Reaktionen. Öffentliche Proteste, alarmierende Schlagzeilen, berechtigt besorgte Bezüge auf die Weimarer Republik. Politische Führungskräfte aller Parteien kämpften darum, sich von dem Debakel zu distanzieren.
Am bedeutsamsten war jedoch der politische Preis, den alle betroffenen Politiker bezahlen mussten. Normen sind wichtig, weil sie durch gesellschaftliche Strafen durchgesetzt werden. In Deutschland wurden kostspielige gesellschaftliche Sanktionen verhängt gegen diejenigen, die die Norm missachtet hatten, nicht mit Rechtsextremen zu kooperieren.
Kemmerich selbst wurde öffentlich verurteilt und kündigte seinen Rücktritt innerhalb von 25 Stunden nach der Wahl an. Falls in Thüringen Neuwahlen angekündigt werden, wird seine Partei wahrscheinlich an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Doch die Auswirkungen reichen weit über Thüringen hinaus. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner, der für seine Bundespartei große Pläne hat, wurde für unzureichende Wachsamkeit kritisiert und seine Führungskraft geschwächt. AKK ist aufgrund ihres fehlerhaften Vorgehens zurückgetreten und hat das Streben nach dem Kanzleramt aufgegeben. Kurz gesagt, der Tabubruch hat all jene, die als Beteiligte wahrgenommen wurden, viel gekostet.
Das steht in starkem Kontrast zu den Entwicklungen in den USA in den letzten drei Jahren. Präsident Donald Trump, der reihenweise demokratische Normen bricht, begegneten Republikanische Führungskräfte nicht mit lautstarker Verurteilung, sondern eher mit Schweigen. Dieses Schweigen ermutigte ihn, weiterhin Normen zu zerschmettern. Und in Amerika hat das politische Chaos weiter zugenommen. Die deutsche Erfahrung war bisher deutlich anders.
Doch deutsche Demokraten sollten nichts als Selbstverständlichkeit ansehen. Es besteht durchaus Grund zur Sorge. Allein die Existenz der AfD führt zu Spaltprozessen in der CDU, wodurch die Führung der beiden großen Volksparteien zeitgleich aus dem Gleichgewicht geraten ist – zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte.
Soziologen lehren uns, dass Normen gebrochen werden, wenn Spannungen in einem System vorherrschen. Tatsächlich gibt es im deutschen politischen System tiefe, destabilisierende Spannungen, durch die zukünftige Normbrüche immer wahrscheinlicher werden.
In Ostdeutschland führt der Weg zur Macht oft über die AfD oder die Linke
So wie in Frankreich, Italien oder anderen europäischen Ländern in den letzten zwei Jahrzehnten scheint sich Deutschlands altes stabiles Parteiensystem jetzt aufzulösen. Im Jahr 1990 holten SPD, CDU und FDP, die alten Pfeiler der Nachkriegsdemokratie, 88 Prozent der Stimmen ein. Heute sind es 64 Prozent, was neue Herausforderungen für die Bildung von Mehrheitsregierungen mit sich bringt.
Das ist gewiss nicht die erste große Veränderung des deutschen Parteiensystems. Mit dem Aufstieg der Grünen in den frühen 1980ern wurde es neu belebt. Die deutsche Wiedervereinigung (und über 16 Millionen neue Bürger) veränderten das System erneut und fügten ihm einen neuen Akteur hinzu – Die Linke.
Doch der Aufstieg der AfD im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise 2015 hat einen neuen Grad der Auflösung des Parteiensystems mit sich gebracht. In Thüringen hat das historische Ungeheuer der SPD jämmerliche 8 Prozent der Sitze. Auch wenn es sich um einen Extremfall handelt, muss die Politik mit einer schrumpfenden Mitte eine fast unausweichliche Tatsache begreifen: In Ostdeutschland führt der Weg zur Macht oft über die AfD oder die Linke.
Diese veränderte strukturelle Realität belastet die Normen der Nachkriegsdemokratie. Die Arithmetik von Wahlkalkülen gleicht der Schwerkraft – ihr Druck ist so stark, dass sie unhaltbar scheinen kann. Deswegen müssen die demokratischen Normen des Nachkriegsdeutschlands, wenn auch stark und nicht zu unterschätzen, verteidigt werden. Die neuen Gegebenheiten des deutschen Parteiensystems anzuerkennen und eine harte Linie gegen die radikale Rechte zu fahren, darin vor allem besteht heute die zentrale Aufgabe der deutschen Demokratie.
Daniel Ziblatt