Folgen der Kemmerich-Wahl: Schocktherapie für die Berliner FDP
Das Wahldebakel von Thüringen hat auch die Berliner FDP aufgewühlt. Der Redebedarf ist groß – und die Parteiführung um Schadensbegrenzung bemüht.
Sobald sie einmal losgetreten sind, lassen sich politische Schockwellen so schnell nicht wieder stoppen. Auch von zwei breitschultrigen Hünen einer Sicherheitsfirma nicht, die die FDP-Ortsvereine Gendarmenmarkt und Charlottenburg-City extra am Eingang für den gemeinsamen Neujahrsempfang platziert haben, um ungebetene Gäste abzuweisen.
Nach dem Debakel um die Wahl des Kurzzeit-Ministerpräsidenten Thorsten Kemmerich und den heftigen Reaktionen inklusive zahlreicher Attacken auf Mitglieder und Räume der Partei treffen sich die Liberalen derzeit besser hinter bewachten Türen. Die Veranstaltung fand im Obergeschoss einer schicken Berlin-Mitte-Bar statt. So wirkte der Laden von außen leer – und die Gäste fühlten sich vor möglichen Angriffen geschützt.
Inhaltlich wiederum, Stichwort Schockwellen, kannte der Abend kein anderes Thema als die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen. Ein extra aus München eingeflogener Referent, geladen für ein einstündiges Referat zum Thema Innovation, bekam ausgerechnet für den Satz „Endlich einmal nicht über Thüringen sprechen“ den größten Applaus. Es war ein schlechter Witz, ja, aber einer, der den Mitgliedern der Partei aus der Seele sprach.
Lachen hilft, besonders in diesen für die FPD so harten Tagen. Unmittelbar nach der Kemmerich-Wahl flatterten in den Ortsverbänden die ersten Kündigungen von Mitgliedern ein. Einzelne Wahlkreisbüros wurden beschmiert, das von Fraktionschef Sebastian Czaja mit Stickern versehen.
Und so ist den Berliner Liberalen weniger zum Lachen als vielmehr zum Reden zumute. Tatsächlich machen sie derzeit kaum etwas anderes – und sind längst noch nicht fertig damit. „Mehrere Stunden“ lang hatte die Abgeordnetenhausfraktion während ihrer ersten Sitzung nach Thüringen die Lage sondiert.
Ein hitziger Aufarbeitungsprozess
Der Start eines Aufarbeitungsprozesses, bei dem es durchaus hitzig zugegangen sein soll. Während einige in der Fraktion allein die Kandidatur Kemmerichs als Fehler betrachten und sich fragen, wem genau damit eigentlich ein Angebot hatte gemacht werden sollen, stören sich andere an den „unsolidarischen“, weil teilweise heftig-kritischen Reaktionen auf dessen Vorgehen. „Das hat die Grenzen dessen, wie man innerhalb einer Partei miteinander umgehen sollte, klar überschritten“, sagt einer mit Blick auf erste Reaktionen aus anderen Ländern und dem Bund. Mit der Meinung, sowohl Kandidatur als auch Annahme der Wahl seien richtig gewesen, vertritt er eine Minderheitenposition in der Berliner FDP. Aus deren Mitgliedschaft heraus war nach der Wahl gar die Maximalforderung einer Abspaltung des „rechten Flügels“ gefordert worden – zumindest kurz.
Der Verlauf der Gräben ist nicht eindeutig
Unklar ist, wo genau die Gräben verlaufen. Zwischen oben und unten, Führung und Basis, Ost und West? Der Aussage eines Abgeordneten aus dem ehemaligen Westteil der Stadt, je weiter gen Osten man gehe – in Berlin wie im Bund – desto größer werde die Zustimmung für das Vorgehen Kemmerichs, wird genau dort, nämlich im Bezirksverband Marzahn-Hellersdorf, klar widersprochen. Gut möglich wiederum, dass das in Treptow-Köpenick schon wieder ganz anders gesehen wird. Der von dort aus ins Abgeordnetenhaus entsandte Stefan Förster fiel zuletzt mehrfach mit Aussagen auf, die von der Konkurrenz als Anbiederung an die AfD gewertet worden waren. Zuletzt kommentierte Förster auf Twitter die Aussage einer jungen Frau, aufgrund des Klimawandels auf Nachwuchs verzichten zu wollen, mit den Worten: „Wenn die Spinner mittelfristig aussterben, ist das ja erstmal nichts Schlechtes…“. Den auch innerhalb der eigenen Reihen wahrgenommenen Schaden vermochte das Zwinkersmiley am Ende des Beitrags nicht mehr abzuwenden.
Mehrere Debatten wären „eskaliert“
Überhaupt fällt der Berliner FDP gerade nach dem „fatalen Fehler“ von Thüringen, wie Fraktionschef Sebastian Czaja am Tag danach die Kemmerich-Wahl kommentierte, das Verhalten einzelner Abgeordneter auf die Füße. Zuletzt waren im Abgeordnetenhaus gleich mehrere Debatten „eskaliert“, wie es ein Liberaler formuliert. In der Diskussion über die Streichung Hindenburgs von der Ehrenbürgerliste, aber auch über das Ausrufen einer Klimanotlage in Berlin vergriffen sich einzelne Abgeordnete im Ton. Der Routinier und stellvertretende Fraktionschef Holger Krestel beispielsweise bezeichnete den Linken-Abgeordneten Michael Efler als „Klima-Faschisten“ und warf Aktivisten vor, einen „Öko-Djihad“ zu führen.
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Nicht zuletzt aufgrund dieser Äußerung nutzte Fraktionschef Czaja die erste Sitzung nach der Kemmerich-Wahl dazu, die FDP-Linie glattzuziehen, was die inhaltliche wie persönliche Abgrenzung zur AfD betrifft. Krestel soll sich bei der Gelegenheit vor versammelter Mannschaft für sein Verhalten entschuldigt haben und sei dabei „so klein mit Hut“ gewesen, erzählen Anwesende. Czaja wiederum hatte bereits in seiner ersten Reaktion auf die Kemmerich-Wahl klargestellt, dass es eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit der AfD, ebenso wie mit der Linkspartei, in Berlin nicht geben wird.
FDP-Landeschef sieht "selbst verschuldete Krise"
Und FDP-Landeschef Christoph Meyer? Der reist durch Bezirks- und Ortsverbände und versucht aufzukehren, was aufzukehren ist. Am Mittwoch, eine Woche nach der von ihm zunächst mit einer Gratulation an Kemmerich kommentierten Wahl in Thüringen, wendete er sich per Mail an die Mitglieder seines Landesverbands. Vom „Fiasko von Thüringen“ war darin die Rede und von einer „selbst verschuldeten Krise“, die die Partei „noch lange beschäftigen“ werde.
Wie viele seiner Parteikollegen räumt Meyer in dem Schreiben ein, von der Volte der AfD in Thüringen vollkommen überrascht worden zu sein. Indirekt liefert er damit all jenen in der Partei einen Steilpass, die genau das hatten kommen sehen, und nun, im Nachhinein, die Konzept- und Planlosigkeit der Parteiführung scharf kritisieren. Nicht die Wahl Kemmerichs, sondern der kopflose und offenbar vollkommen unvorbereitete Umgang mit ihr sei das Problem, sagen viele in der FDP. Meyer, der die Zeit der „Demut und des Innehaltens“ gekommen sieht, spricht von einer „Fehleinschätzung“, die „beschämend für uns ist“. Der FDP-Landeschef ist überzeugt, dass die Kandidatur Kemmerichs „innerhalb des FDP-Landesverbands Thüringen abgestimmt und auch der Bundesspitze und der Bundestagsfraktion bekannt“ gewesen ist.
„Geschehene Fehler offen eingestehen und wo es geht zu korrigieren“
Gelegenheit zur Erklärung hat Meyer in den kommenden Tagen und Wochen ausreichend. Am Montag stellt er sich den gut 620 Mitgliedern des FDP-Bezirksverbands Mitte zur Diskussion, am Mittwoch – gemeinsam mit FDP-Bundesvorstand Alexander Pokorny – dem Bezirksverband Charlottenburg-Wilmersdorf, Meyers Heimatverband.
Nachdem er in den ersten Stunden nach der Wahl eine Stimmung wiedererkannt haben will, die viele noch aus den Chaosjahren 2009 bis 2013 erinnern, werde es nun darum gehen, „geschehene Fehler offen einzugestehen und wo es geht zu korrigieren“, erklärt Meyer. Der Grat zwischen angemessener Kritik und Selbstzerfleischung sei schmal, schreibt er weiter. Und unter dem Einfluss von Schockwellen fällt das Balancieren bekanntlich schwer.