Antisemitismusbericht für den Bundestag: Was der Nahostkonflikt mit Judenhass zu tun hat
Klassischer Antisemitismus geht weiter zurück, stellen Experten fest. Aber neue Formen wählen den Umweg über Kritik an Israel als Staat.
Israel hat am Montag des Holocaust gedacht. Während dort mit einer landesweiten Schweigeminute an die sechs Millionen ermordeten Juden erinnert wurde, wurde, ebenfalls um 10 Uhr, im Deutschen Bundestag der Antisemitismusbericht vorgestellt, den ein Unabhängiger Expertenkreis zwei Jahre lang erarbeitet hat. Darin wird festgestellt, dass auch mehr als sieben Jahrzehnte nach dem deutschen Massenmord an den Juden Judenhass ein Problem bleibt in dem Land, in dem er geplant und ins Werk gesetzt wurde. In ihrem Bericht für den Bundestag stellen die neun Fachleute zwar fest, dass offener Judenhass in Deutschland zwar „gesamtgesellschaftlich selten so sehr an den Rand gedrängt“ gewesen sei wie derzeit. Moderne Facetten seien aber weit verbreitet.
"Schon Begriff Israel-Kritik ist problematisch"
Demnach geht der sogenannte klassische Antisemitismus kontinuierlich zurück; der Trend habe sich auch 2016 fortgesetzt. Fanden im Jahr 2002 noch neun Prozent der deutschen Bevölkerung , „die Juden“ hätten „zu viel Einfluss“, mutmaßten jüdische Verschwörungen oder äußerten sich offen abwertend über Juden, so galt dies im letzten Jahr nur noch für fünf Prozent. Auch das, was in der Forschung „sekundärer Antisemitismus“ genannt wird, wird schwächer, also etwa die Aussage, Juden nutzten die Holocaust-Erinnerung aus, oder die Forderung nach einem Schlussstrich im Gedenken. Solches Gedankengut äußert aber immer noch etwa ein Viertel der Menschen, die in Deutschland leben.
Ganze 40 Prozent der Bevölkerung bekennen sich aber zu so genanntem „israelbezogenen Antisemitismus“, ihre Kritik am jüdischen Staat ist antisemitisch konnotiert, heißt es im Bericht. Dabei müsse immer der Kontext einer Aussage beachtet werden, mahnte Juliane Wetzel, Forscherin am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Die Frage sei, ob Kritik an Israel „Umwegkommunikation“ sei und in Wirklichkeit auf Juden ziele. Der Leiter der Stiftung „Topographie des Terrors“ und frühere Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Andreas Nachama, auch er Mitglied des Expertenkreises, nannte schon den Begriff „Israel-Kritik“ problematisch. Man könne eine Regierung oder deren Handeln kritisieren, aber schwerlich ein Land.
Sorge wegen Angriffs auf jüdischen Schüler in Friedenau
Mehrfach war der antisemitische Vorfall kürzlich in Berlin-Friedenau Thema. Dort hatten Schüler einen jüdischen Mitschüler beschimpft, wobei auch der Satz fiel „Alle Juden sind Mörder“. Der Junge wurde auch mit einer Waffe bedroht. Der Grünen-Abgeordnete Volker Beck zitierte Friedenau als Beispiel jener modernen Spielart eines „Antisemitismus ohne Antisemiten“. Im Brief der Eltern, die ihre Schule verteidigten, sei vom Nahostkonflikt die Rede gewesen. „Die Leute sehen sich nicht so und sind ganz beleidigt, wenn man ihnen nachweist, dass es antisemitisch ist, einem britischen jüdischen Schüler für den Nahostkonflikt in die Verantwortung zu nehmen." „Schon anzunehmen, dass es einen plausiblen Grund gibt, jüdische Menschen abzulehnen, ist im Kern antisemitisch“, sagte Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke), die wie Beck für die Grünen Berichterstatterin ihrer Fraktion für Antisemitismus ist. Der Fall im gutbürgerlichen Friedenau sei ebenso erschreckend wie lehrreich für das Phänomen moderner Antisemitismus: Er zeige einerseits, dass Angehörigen aller sozialen und Bildungsschichten judenfeindlich handeln könnten, und dass er heute eben nicht, wie der Elternbrief auch behaupte, ein Problem von Muslimen und Arabern sei. „Erschreckend war auch, dass die Sorge um den Ruf der Schule im Mittelpunkt stand und nicht der Schutz des Betroffenen.“ Auch dies sei eine übliche Reaktion auf Antisemitismus. Für Patrick Siegele, den Leiter des Anne-Frank-Zentrums in Berlin und Koordinator des Expertenkreises, zeigt Friedenau einschließlich der politischen und medialen Reaktio darauf, „wie schwer sich die deutsche Gesellschaft insgesamt im Umgang mit Antisemitismus tut“.
Fragen zu Judenfeindschaft: AfD antwortete als einzige nicht
Der Kreis hatte zwei Jahre lang Forschung zu Antisemitismus ausgewertet, eigene Expertisen in Auftrag gegeben und Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft eingeladen, um sich ein möglichst umfassendes Bild zu machen. Erstmals bezogen die Fachleute auch Jüdinnen und Juden und ihre täglichen Erfahrungen mit ein. Für viele von ihnen ist, so der Bericht, Antisemitismus „eine allgegenwärtige und häufige Erfahrung“, fast alle empfinden ihn als belastend. Viele Befragte hätten selbst sogar den Eindruck gehabt, der Antisemitismus hätte in den letzten Jahren zugenommen und nannten dahinter überproportional häufig“ Judenhass, der ihnen durch Muslime entgegengeschlagen sei, verbunden mit der Sorge, Geflüchtete könnten in ihren Heimatländern verbreiteten oder staatlich geförderten Judenhass nach Deutschland importieren.
Die vom Expertenkreis beauftragten Studien stellten tatsächlich „ein vergleichsweise hohes Maß an antisemitischen Einstellungen“ unter arabischen und nordafrikanischen Geflüchteten fest,aber keinen religiösen Zusammenhang, auch nicht unter Christen. Die Fachleute warnen denn auch, Antisemitismus sozusagen an Migranten und Muslime auszulagern. Sie verwiesen bei Vorstellung des Berichts auf die Weigerung des AfD-Parteitags in Köln, sich von Antisemitismus zu distanzieren. Die AfD, so Siegele, sei auch die einzige Partei gewesen, die auf die Anfrage des Expertenkreises nicht geantwortet, ja nicht einmal reagiert habe.
Fachleute fordern Vorbeugung
Der Bundestag wird, da sind sich alle Fraktionen einig, noch vor der Bundestagswahl im September über den Bericht und die Empfehlungen der Fachleute diskutieren, wie Antisemitismus vorzubeugen sei. Sie fordern unter anderem, dass der Bundestag regelmäßig Expertise einholt, dass es für Präventionsarbeit dauerhafte Förderung gibt und dass antisemitische Straftaten konsequent erfasst, veröffentlicht und vor die Gerichte gebracht werden. Der Grüne Beck merkte an, die Veröffentlichung von Berichten dürfe nicht zum leeren Ritual werden. Schon auf den ersten Expertenbericht sei nicht mehr passiert, als dass ein weiterer beschlossen wurde.
Andrea Dernbach