Entscheidungswoche in Europa: Was den Machtkampf in der EU so kompliziert macht
Fünf Spitzenposten müssen in der EU verteilt werden. Dabei kämpft Merkel gegen Macron, das Parlament gegen den Rat. Fragen und Antworten zum Thema.
Bei den Auseinandersetzungen um das Personalpaket der EU geht es um die Frage: Wer hat das entscheidende Wort bei der Suche nach dem nächsten Kommissionspräsidenten? Die Staats- und Regierungschefs oder das Europaparlament? Sollte sich das Parlament durchsetzen, hätte dies weitere Folgen: Für den Wähler würden Personalentscheidungen transparenter. Und: Womöglich würde das Parlament dann auch mehr Einfluss auf die Arbeit der Kommission bekommen.
Woher kommt der Zeitdruck beim Schnüren des Personalpaketes für Europa?
Es eilt, weil schon am Dienstag einer der Posten besetzt werden muss. Wenn das Europaparlament erstmals zusammenkommt, muss ein Präsident gewählt werden.
Die Entscheidungen über die fünf Posten – Chef der Kommission, des Parlamentes, des Rates, der Europäischen Zentralbank sowie der Außenbeauftragte der EU – hängen alle miteinander zusammen. Es gilt genau auszutarieren zwischen Ansprüchen der Parteifamilien, der Länderzugehörigkeit und dem Geschlecht.
Das Paket muss kompromissfähig sein. Ein hoher EU-Diplomat sagt: „Wenn der erste Knopf falsch geknöpft wird, hängt die ganze Jacke schief.“
Worum genau geht es beim Streit um die Benennung des Kommissionspräsidenten?
Dabei wird die Machtfrage zwischen zwei europäischen Institutionen ausgefochten. Auf der einen Seite ist der Rat, also das Gremium der Mitgliedstaaten. Früher haben die Staats- und Regierungschefs hinter verschlossenen Türen ausmachen können, wer Kommissionspräsident wird. Auf der anderen Seite steht das Europaparlament.
Es hat bei der Wahl 2014 aus einer Passage des Lissabonner Vertrages das sogenannte Spitzenkandidaten-Modell entwickelt. Dies besagt: Nur ein Politiker, der vor den Europawahlen seine Kandidatur für den Spitzenposten erklärt hat, kann überhaupt zum Kommissionspräsidenten gewählt werden.
Nach dem EU-Vertrag muss der Rat dem Parlament im Lichte des Wahlergebnisses und nach eingehender Konsultation der relevanten politischen Kräfte im Parlament einen Vorschlag machen. Der Kommissionspräsident muss dann vom Parlament mit Mehrheit gewählt werden.
Der französische Präsident Emmanuel Macron und der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez haben im Rat eine Formation aus elf von 28 Mitgliedstaaten geschmiedet, die keinen der drei Spitzenkandidaten der europäischen Parteienfamilien unterstützen, weder den CSU-Mann Manfred Weber, der mit der christdemokratischen Fraktion EVP stärkste Kraft im Europaparlament ist, noch den Sozialisten Frans Timmermans noch die Liberale Margrethe Vestager.
Wie schwer ist das Zerwürfnis zwischen Deutschland und Frankreich?
Zumindest das Verhältnis von Macron und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) soll schwer beschädigt sein, nachdem Macron sich gegen die Wahl von Manfred Weber (CSU) zum Kommissionspräsidenten gestellt hat, heißt es aus Brüsseler Quellen. Demnach soll die Kanzlerin Macron erklärt haben, wenn er sich gegen den deutschen Kandidaten stemme, werde er auch keinen französischen Kandidaten für das Amt des EU-Chefs durchsetzen können.
Aus französischer Sicht hat Merkel die Vorschläge Macrons zur Weiterentwicklung der EU nicht oder zumindest unzureichend aufgenommen und unterstützt, die er erstmals im Herbst 2017 unterbreitet hatte. Das sehen auch weite Teile der SPD so, die selbst dafür gesorgt hatte, dass im Koalitionsvertrag ein „Aufbruch für Europa“ versprochen wurde.
Fortschritte in der EU aber sind nur möglich, wenn Deutschland und Frankreich gemeinsam agieren. Auf mehreren Politikfeldern arbeiten beide Regierungen nicht miteinander, sondern gegeneinander. So ist Paris massiv verärgert über die deutsche Empfindlichkeit gegenüber Rüstungsexporten, weil diese auch deutsch-französische Gemeinschaftsproduktionen treffen. Auch um Haushaltsfragen oder Klimaschutz streiten beide Seiten.
Will Macron zurück zur Hinterzimmerpolitik?
Macron behauptet etwas anderes. Offiziell sagt er Nein zu den Spitzenkandidaten, weil sie nicht europaweit angetreten sind, Weber etwa nur in Deutschland gewählt werden konnte. Macron hätte gern transnationale Listen gehabt und erklärt jetzt, dass ohne transnationale Listen das Spitzenkandidaten-Modell nicht funktioniere.
Zudem hat er deutlich gemacht, dass er Weber für ungeeignet hält, weil er noch keine Erfahrungen als Regierungschef vorweisen kann. Die Sozialdemokraten wollen Frans Timmermans durchsetzen, die Liberalen Margrethe Vestager. Es ist anzunehmen, dass es Macron auch darum geht, das System der Parteienfamilien durcheinanderzubringen.
Bislang waren die Christdemokraten immer die stärkste Kraft im Europaparlament wie auch im Rat und leiteten daraus den Anspruch ab, den Kommissionspräsidenten zu stellen. Diesen Anspruch will er brechen.
Wie könnten personelle Kompromisse aussehen?
Wichtiger als die Parteienfarbe ist für Staats- und Regierungschefs der Erfolg, der darin besteht, einen Landsmann zum Kommissionschef zu küren. Ein möglicher Kandidat Macrons für den Chefposten der Kommission ist Michel Barnier, der für die EU die Brexit-Verhandlungen geführt hat. Eine deutsche Zustimmung zu ihm gilt als schwierig – er war nie Spitzenkandidat und gilt in Berlin als Vertreter der zentralistischen, staatsorientierten französischen Wirtschaftspolitik.
Möglich ist aber auch, dass neue Kandidaten auftauchen. So wird in Brüssel genau registriert, dass IWF-Chefin Christine Lagarde sich häufig in Europa aufhält und regelmäßig an den Sitzungen der europäischen Finanzminister teilnimmt. Als ehemalige Wirtschafts- und Finanzministerin in Paris bringt die Französin Erfahrung in der Exekutive mit. Eine Einigung könnte so aussehen: Merkel stimmt für Lagarde, dafür rückt Bundesbank-Chef Jens Weidmann an die Spitze der Europäischen Zentralbank.
Welche Bedeutung hat der Streit für die Demokratie in Europa?
Es geht nicht bloß um die Frage, welche Institution das entscheidende Wort hat bei der Suche nach dem Kommissionspräsidenten, der Rat oder das Parlament. Das Spitzenkandidaten-Modell ist der Versuch, Europawahlen interessanter zu machen, indem die Wähler auch über den Top-Job abstimmen dürfen. Tatsächlich ist die Wahlbeteiligung auch stark gestiegen.
Das Versprechen war: Es sollte auch transparenter zugehen bei der Postenverteilung, indem die Spitzenkandidaten vorher Wahlkampf machen und ihre politischen Überzeugungen in einem gesamteuropäischen Wahlkampf offenlegen. Darüber hinaus geht es um eine Machtbalance zwischen Rat und Parlament.
Sollte ein Kommissionspräsident gewählt werden, der wie Weber aus dem Parlament kommt und für seine Wahl gegenüber den anderen demokratischen Kräften inhaltliche Versprechungen machen muss, dann wäre der neuen Kommissionspräsident in besonderer Weise dem Parlament verpflichtet. Der jetzige Kommissionspräsident Juncker und alle seine Vorgänger sind ins Amt gekommen, weil die Staats- und Regierungschefs sie ausgeguckt haben.