Niederlage von Boris Johnson: Was das Supreme-Court-Urteil für den Brexit bedeutet
Nach einer Entscheidung des obersten britischen Gerichts darf das Parlament wieder tagen. Boris Johnson aber will unbeirrt an seinem Kurs festhalten.
Der Londoner Supreme Court hat am Dienstag Verfassungsgeschichte geschrieben. Das Oberste Gericht brachte dem britischen Regierungschef eine Niederlage bei, wie sie verheerender kaum sein kann. Sämtliche elf Richter des Gerichts kamen einstimmig zu dem Urteil, dass die von Boris Johnson verordnete fünfwöchige Zwangspause des Parlaments rechtswidrig war. Der in New York weilende Premierminister sah sich umgehend mit Rücktrittsforderungen der Opposition konfrontiert. Seine Regierung werde das Urteil respektieren, obwohl er gänzlich anderer Meinung sei, sagte Johnson.
Wie hat das Gericht sein Urteil begründet?
Die drei Frauen und acht Männer unter Vorsitz von Justice Brenda Hale sahen sich mit einer kniffligen Aufgabe konfrontiert. Das höchste schottische Zivilgericht hatte vor 14 Tagen einer Beschwerde von 75 Parlamentariern zugestimmt: Der Premierminister habe die Monarchin belogen, als er von Elisabeth II. eine fünfwöchige Parlamentspause zur Vorbereitung seines neuen Regierungsprogramms verlangte. In Wahrheit sei es Johnson darum gegangen, dem Parlament möglichst lang sein Mitsprache- und Befragungsrecht in Sachen Brexit zu verweigern. Die Regierung rief daraufhin den Supreme Court an.
Die Verhandlung ließ vergangene Woche keinen Rückschluss auf die Sympathien des elfköpfigen Gremiums zu. Sowohl die Regierungsanwälte, angeführt von Lord Richard Keen, wie auch Lord David Pannick als Vertreter der Anti-Brexit-Aktivistin Gina Miller sowie Aidan O’Neill für die Parlamentarier sahen sich bohrenden Nachfragen der Richter ausgesetzt. Umso überraschender kam am Dienstag die einmütige Entscheidung.
Der Supreme Court erklärte sich uneingeschränkt für zuständig: Schließlich habe ein Gericht bereits 1611 dem damaligen König James politischen Spielraum „nur innerhalb der Gesetze des Landes“ zugebilligt. Die Prorogation – die Parlamentspause – gehöre zwar zu den Aufgaben der Exekutive, rühre aber an ein Verfassungsprinzip, nämlich die Souveränität des Parlaments. Dessen Fähigkeit zur Kontrolle der Regierung und zum Erlassen neuer Gesetze werde im Vorfeld des Brexit-Termins zu lang behindert, nämlich in fünf von acht möglichen Sitzungswochen: „Die Wirkung auf fundamentale Pfeiler unserer Demokratie war extrem.“
Zur Motivlage des Premierministers und damit zu der Frage, ob Johnson die Queen belogen hatte, mochten die Richter keine Stellung beziehen.
Was bedeutet das Urteil für Johnsons Zukunft als Premierminister?
Nach der Urteilsverkündung verging gerade eine Viertelstunde, bis Oppositionschef Jeremy Corbyn den Rücktritt des Regierungschefs verlangte. Die Entscheidung des Supreme Court sei ein Beleg dafür, dass Johnson die Demokratie verachte, bilanzierte der Vorsitzende der Labour-Partei. Auch die Parteichefin der oppositionellen Liberaldemokraten, Jo Swinson, erklärte, dass Johnson für das Amt des Premierministers ungeeignet sei.
Johnson denkt aber nicht im Entferntesten daran, auf die Rücktrittsforderungen einzugehen. Der Regierungschef, der am Dienstag noch an der UN-Vollversammlung in New York teilnahm, sprach in einem Interview mit dem Sender „Sky News“ davon, dass er das Justizurteil zwar respektiere. Im selben Atemzug verteidigte er noch einmal seine Entscheidung, dem Parlament eine längere Zwangspause zu verordnen. Das von ihm genutzte Mittel der Prorogation werde seit Jahrhunderten genutzt, um Thronreden vorzubereiten, beteuerte er.
Johnson ist also fest entschlossen, den politischen Sturm auszusitzen, der nach dem Urteil losgebrochen ist. Dazu passt, dass er schon seit Wochen in die Rolle des Wahlkämpfers geschlüpft ist. Auch am Dienstag ging er nach dem Londoner Urteil gleich in die Offensive. „Es gibt eine Menge Leute, die den Brexit vereiteln wollen“, schimpfte er. Johnson baut offenbar darauf, dass die bevorstehenden Unterhauswahlen das Ergebnis des EU- Referendums von 2016 noch einmal bestätigen. Dass er sich seiner Sache dabei sicher ist, zeigt die Tatsache, dass Johnson auch am Dienstag seine Forderung nach Neuwahlen noch einmal erneuerte.
Was bedeutet das Urteil konkret für das Parlament?
Die Zwangspause wird behandelt, als habe es sie nicht gegeben. Speaker John Bercow rief das Unterhaus bereits am Dienstagmittag für eine Sitzung tags darauf zusammen. Es kann dann nicht nur den Premierminister für eine Aktuelle Stunde herbeizitieren, sondern auch neue Sonderdebatten beantragen. Außerdem geht die normale Gesetzgebungsarbeit weiter. So hatte die Zwangspause beispielsweise eine bereits weit gediehene Novelle des Gesetzes gegen häusliche Gewalt von der Tagesordnung gedrängt.
Wie reagiert die Opposition?
Die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon sprach von der „bedeutendsten verfassungsrechtlichen Entscheidung unserer Zeit“. Den Premierminister forderte die Chefin der Nationalpartei SNP zum Rücktritt auf: „Er ist seines Amtes nicht würdig.“ Ähnlich äußerten sich Vertreter von Liberaldemokraten, Grünen und walisischen Nationalisten.
In ähnlicher Schärfe urteilte der frühere Generalstaatsanwalt Dominic Grieve über seinen Parteifeind: Johnson habe die Öffentlichkeit belogen, sein Verhalten gegenüber der Queen sei „unredlich“ gewesen. Grieve stimmte einem Tweet des Brexit-Parteichefs Nigel Farage zu: Wegen der „verheerend falschen politischen Entscheidung“ solle Johnson seinen Chefberater Dominic Cummings feuern.
Oppositionsführer Corbyn kündigte unterdessen beim Labour-Parteitag in Brighton an, dass seine Partei im Falle eines Wahlsieges ein Referendum abhalten wolle. Dabei solle es ein Wahlmöglichkeit zwischen einem Verbleib in der EU und einem „glaubwürdigen Austrittsvertrag“ geben.
Welche Folgen hat die Entscheidung des Supreme Court für den EU-Austritt Großbritanniens?
Das Urteil des Supreme Court ändert nichts daran, dass am 31. Oktober weiterhin ein No-Deal-Brexit droht. Solange Johnson im Amt ist, steht auch seine Drohung im Raum, in fünf Wochen einen ungeregelten Austritt herbeizuführen. Zwar hat das Unterhaus ein Gesetz verabschiedet, das ihn dazu verpflichtet, im Fall einer fehlenden Einigung mit der EU über den Austrittsvertrag eine weitere Verlängerung der Brexit-Frist über den 31. Oktober hinaus zu beantragen.
Johnson hat aber bereits zu Protokoll gegeben, dass er „lieber tot im Straßengraben liegen“ wolle. Auch nach dem Urteil hielt er an seiner Auffassung fest, dass Großbritannien nach Lage der Dinge die EU am 31. Oktober verlassen werde – mit oder ohne Deal.
Nachdem die Parlamentarier nach der Entscheidung des Obersten Gerichts zusätzliche Sitzungszeit gewonnen haben, würde die unkomplizierteste Lösung theoretisch darin bestehen, wenn vor dem 31. Oktober eine Mehrheit im Unterhaus den seit Ende letzten Jahres vorliegenden EU-Austrittsvertrag absegnen würde. Damit wäre ein No-Deal-Brexit abgewendet.
Johnsons Amtsvorgängerin Theresa May war mit dem Deal dreimal im Unterhaus durchgefallen. Auch am Dienstag sah es nicht danach aus, als würde sich demnächst im Parlament eine Mehrheit für den Scheidungsvertrag finden.