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Premier Boris Johnson (Mitte) suspendierte das Parlament.
© imago images / Xinhua

Hundewelpen kaufen und wandern: Wie britische Parlamentarier die Zwangspause nutzten

Großbritannien erlebt die größte innenpolitische Krise seit Jahrzehnten. Boris Johnson stellte das Parlament kalt. So gehen die Politiker damit um.

Man nannte es  „die wildeste Woche in 300 Jahren Parlament“ – bevor all das hurlyburly im Unterhaus am 10. September, mit einem Schlag aufhörte: Suspendiert vom Premierminister. Das gesamte Parlament. 650 gewählte Vertreter des Landes. Mitten während der Debatten um die folgenreichsten Entscheidung seit dem Zweiten Weltkrieg sollten sie geschlagene fünf Wochen lang zwangspausieren und erst wieder am 4. Oktober zusammenkommen, wenn die Queen dort ihre Rede halten wird. Zwei Wochen sind schon um.

Was tut ein verhindertes Parlament? Was tun suspendierte Parlamentarier? Schaffen sie sich Hundewelpen an? Suchen sie Halt in ihren Wahlkreisen? Fallen sie in den Wahlkampfmodus, da ja über kurz oder lang doch eine Neuwahl anstehen wird, wenn auch vielleicht erst nach einem chaotischen Brexit? Justieren sie ihre persönliche Lebensplanung neu? Sie tun all dies.  

„Constituency life continues“, schrieb Anne Milton auf Twitter, “das Leben im Wahlkreis geht weiter”. Und in der Tat, den Wählern musste man einiges erklären. Milton jedenfalls gehört zu den 21 Tories, die von Johnson aus der Fraktion geworfen wurden, als sie es wagten, sich mit einem Gesetzentwurf gegen Boris Johnsons „No Deal“ zu stellen. Seitdem sitzen sie unfreiwillig als „Independent“ im Unterhaus.

Boris Johnsons Säuberungsaktion

Diese 21 Verbannten haben es besonders schwer. Boris Johnson nannte seine beispiellose Säuberungsaktion schlicht „Disziplin herstellen“. Das klang harmlos und unumgänglich. Als hätte er es mit Haufen bockiger Kinder zu tun. Doch unter ihnen sind treueste Konservative, Granden der Partei, die unter Margaret Thatcher, John Major, David Cameron und Theresa May noch Ämter innehatten, selbst Winston Churchills Enkel hat es getroffen. Sie sind dabei, ihre Demütigung zu verarbeiten.

Rory Stewart fiel vielleicht am Tiefsten: der Moderate, war Wochen zuvor selbst noch einer der Kandidaten gegen Johnson im Wettlauf für das Amt des Premiers gewesen. Man schätzte ihn für seien Verhandlungskunst und seine intellektuelle Kapazität. Nun erhielt er einfach eine SMS, dass er nicht mehr Teil der Fraktion sei.

Dominic Grieve, der Architekt des No-no-Deal-Gesetzes, das einen harten Brexit verhindern sollte, bemerkte seinen Rausschmiss daran, dass er keinen Zugang mehr zu den Informationen auf dem Server der Fraktion hatte. Grieve, schrieb die Welt, wolle für ein paar Tage in den schottischen Highlands wandern gehen, um Klarheit zu gewinnen. Nochmal in Schottland wandern, so lange es noch zu Großbritannien gehört!

Die Parlamentarier hören nicht auf, Politiker zu sein

Aber die Bewältigungsstrategien sind unterschiedlich. Caroline Nokes, unter Theresa May Staatssekretärin für Immigration und umstritten wegen dessen harter Politik, hat sich einen Hundewelpen angeschafft, Hashtag #puppiesnotpolitics.

Die Zeit hat sie jetzt. Von ihrem malerischen Heimartort Romsey, Hampshire aus postet sie Bilder von den Kuchenbuffets ehrenamtlicher Initiativen.    

Steve Brine, Winchester, nennt seinen Rundgang im Wahlkreis jetzt ironisch die „Prorogation Tour“. Redebedarf besteht auf allen Seiten. Es ist ja verstörend, wenn man ein wirklicher Konservativer ist und nun nach Jahrzehnten schlagartig nicht mehr mittun darf. MP Richard Benyon etwa, der offenbar schwer an seiner plötzlichen Heimatlosigkeit knabbert, verkündete, er werde einfach weiterhin in allen Dingen außer dem No Deal immer mit der Regierung stimmen und hoffen, dass dieser Rausschmiss rückgängig gemacht werde.

650 Parlamentarier hören ja nicht auf, Politiker zu sein, nur weil sie an ihrer Hauptaufgabe gehindert sind. Und sie müssen sich auch als Menschen entscheiden, wenn alles zum Test kommt: Die Demokratie, die lose Verfassung, das Parlament und jeder einzelne Abgeordnete. Was zählt? Karriere? Fraktionszwang? Loyalität? Gewissen? Die Partei? Das Abstimmungsergebnis des Wahlkreises? Der ominöse „Wählerwille“? Und wo liegt das von jeder Seite bemühte „Wohl des Landes“ – the „national interest“?

Arbeit an Plan B

Die hoch geachtete Arbeitsministern Amber Rudd warf ihren Posten hin, aus Protest über Johnsons despotenhafte Säuberungsaktion in der Partei. Sie kritisierte außerdem, dass der Premier mit Brüssel nur Unterhaltungen führe, keine Verhandlungen, während bis zu 90 Prozent der „government time“ in die Vorbereitung eines No-Deal flössen.

Und Rudd denkt in diesen Wochen, das weiß man, weil sie auch außerhalb des Parlaments Reden hält, über eine Reform des Wahlrechts nach. Ob nicht ein Verhältniswahlrecht für solche Situationen angemessener sei?

Justine Greening, Tory Rebel aus Putney, arbeitet seit ihrem Rauswurf an Plan B. Sie schreibt, dass sie glaubt, in Zukunft außerhalb des Parlaments mehr für das Land erreichen zu können und sucht sich einen anderen Lebensschwerpunkt: „Social Mobility“, eine Organisation, die sich mit sozialer Durchlässigkeit befasst, soll demnächst ihr Fokus sein. Greening ist die einzige Parlamentarierin, die auf eine Gesamtschule ging. Aber so lange noch Zeit dazu ist, solle man sich engagieren, um die dritte Startbahn in Heathrow zu blockieren.

Ohne die sozialen Medien wüsste man jetzt wenig von den Initiativen der Einzelnen. Das, was sonst im Parlament diskutiert wird, kann man jetzt bei jedem einzeln abholen. Einige versuchen, auch per Twitter den Druck auf die Regierung aufrecht zu erhalten. Sie schreiben Briefe auf dem cremefarbenen Briefpapier mit dem grünen Logo des House auf Commons mit der Bitte um dringende Bearbeitung. Schließlich laufen im laufenden Parlamentsbetrieb noch andere Deadlines als die für den Brexit. Diese Briefe fotografieren und posten sie.

Philipp Lee ist im ersten Leben Arzt

Emily Thornberry, Schatten-Außenministerin bei Labour, stellt zur Debatte, was ansonsten gerade im Parlament verhandelt worden wäre:

Diane Abbot, Labour, weist darauf hin, dass auch das geplante Gesetz zur häuslichen Gewalt Opfer der Parlamentspause geworden ist. Und das, obwohl in England mehr Frauen an den Folgen häuslicher Gewalt als an Krebs sterben.

Und dann ist da natürlich Phillip Lee, der Übergelaufene, der Minderheitenmacher der Johnson-Regierung. Phillip Lee, der am 3. September so spektakulär mitten während einer Rede Johnsons im Parlament aufstand und hinüberlief zu den Bänken der pro-europäischen Liberaldemokraten. So nahm er Johnson mit maximaler Demütigung die dünne Mehrheit ab. Lee kann nun nach 27 Jahren bei den Tories immerhin einen Neuanfang gestalten. Sein Aufmacher-Bild bei Twitter: Die Erde, aus dem Weltraum betrachtet. Klar, mit Abstand zur eigenen Spezies sieht man mehr.

Lee ist im ersten Leben Arzt, der nach eigener Aussage noch immer gelegentlich Patienten aus seinem Wahlkreis Bracknell südwestlich von London den Puls fühlt. Er war unter May Staatsekretär im Justizministerium.  Nun, als Verbannter, lässt er im Westminster-Podcast „On the House“ von sich hören, indem er eine knappe Stunde lang über die Lage diskutiert: „On the House“ erscheint auch dann, wenn das „House“ selbst suspendiert ist. In der Folge „A round with the rebels“, „Eine Runde mit den Rebellen“,  kann man tief in die Einschätzungen der beiden frisch gefeuerten Tories Phillip Lee und Sam Gyimah eintauchen.

Nun hat der Supreme Court das Wort

Niemand kann behaupten, dass die suspendierten Abgeordneten tatenlos sind. Zwei Parteitage haben stattgefunden, der von Labour und der der Liberaldemokraten. Letztere feierten die Neuzugänge aus den Reihen der Tories: Phillip Lee und nun auch Sam Gyimah.

Und John Bercow, der Speaker of the House, dessen „Order“-Rufe der Welt noch nach zwei Wochen Pause in den Ohren nachklingen? Er drohte Johnson mit Fantasie: Er würde das Regelwerk des Parlaments kreativ auszulegen wissen, wenn der Premier versuchen sollte, es zu umgehen.

John Bercow, der Speaker des Parlaments in typischer Haltung.
John Bercow, der Speaker des Parlaments in typischer Haltung.
© dpa

Aber zunächst hatte am Dienstag der Supreme Court das Wort: Elf Richter erklärten einstimmig, dass die Zwangspause rechtswidrig sei. Boris Johnson, bekannt für seinen dehnbaren Wahrheitsbegriff, der zuvor vollkommen folgenlos und immer wieder aufs Neue eine ganze Nation mit nachweislich falschen Behauptungen in die Irre führen konnte, stürzt möglicherweise über eine Todsünde, die es so nur in England gibt: Belüge niemals die Queen!

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