Risiko mit Nebenwirkungen: Was das Astrazeneca-Debakel für die Impfstrategie bedeutet
Nach dem Aussetzen von Astrazeneca wächst die Angst vor dem Vakzin. Welche Folgen hat das für die deutsche Impfkampagne?
Es ist ein weiterer Rückschlag für die Impfkampagne. Und mit dem Aussetzen des der Immunisierung mit Astrazeneca gerät das Krisenmanagement von Bund und Ländern noch mehr in Schieflage.
Dabei stand die Kommunikation rund um das Vakzin von Anfang unter einem schlechten Stern: Erst wurde der Stoff von der Ständigen Impfkommission mangels ausreichender Daten nicht für Über-65-Jährige zugelassen, dann doch. Dann wurde er vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI) vorerst gestoppt während andere Länder ihn weiter verimpfen – und die gemeinsame EU-Impflinie zerbröselt. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) betont, dass er der Empfehlung des PEI gefolgt sei, und es sich um eine fachliche, keine politische Entscheidung handele.
Was ist das Ungewöhnliche an den Blutgerinnseln, deren Zusammenhang mit dem Astrazeneca-Impfstoff untersucht wird?
Unter 1,6 Millionen Geimpften sind hierzulande sieben Fälle von Sinusvenenthrombosen aufgetreten, drei der Betroffenen sind daran gestorben. Fachleute des PEI betrachten dies als auffällige Häufung der sehr seltenen Hirnvenenthrombosen. Sie seien in Verbindung mit einem Mangel an Blutplättchen und Blutungen kurz nach den Impfungen aufgetreten.
Sinusvenenthrombosen sind Blutgerinnsel in Venen, die Blut vom Gehirn zurück zum Herzen führen. Blut gerinnt normalerweise bei Luftkontakt nach äußeren Verletzungen. Blutgerinnsel können sich aber auch im Blutkreislauf bilden und Gefäße verstopfen.
Sie sind eine häufige auftretende Ursache für Schädigungen an Körpergewebe, das von der Blutversorgung abgeschnitten wird. Sinusvenenthrombosen blockieren den Blutabfluss aus dem Gehirn und sind daher lebensgefährlich. In Deutschland sind bislang etwa vier Fällen pro einer Million Geimpfter seit dem Impfstart Anfang Februar aufgetreten. In der allgemeinen Bevölkerung kommt es pro Jahr zu etwa zwei bis fünf Fällen pro einer Millionen Personen. Es gibt allerdings auch Studien, die von einer höheren Inzidenz bis zu 15 Fällen pro Million Menschen im Jahr ausgehen.
Die von der Impfung unabhängigen Fälle sind nicht gleichmäßig auf verschiedene Bevölkerungsgruppen verteilt: Frauen sind häufiger betroffen als Männer und jüngere Personen haben ein höheres Risiko als ältere. Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) untersucht, ob auch Fälle im zeitlichen Zusammenhang zur Impfung auftraten. Auf einer Pressekonferenz am Dienstag machte die Direktorin Emer Cooke dazu jedoch noch keine Angaben.
Worauf könnten die Nebenwirkungen beruhen?
Die EMA schließt die Möglichkeit nicht aus, dass die Komplikation bei Menschen auftrat, die mit eventuell verunreinigten Chargen des Impfstoffs geimpft worden sind. Die Behörde untersucht die möglichen Zusammenhänge der bislang berichteten Fälle und auch die Herstellungsverfahren des Impfstoffes, der an mehreren Standorten produziert wird. Bislang geht die Behörde jedoch nicht davon aus, dass der Zusammenhang zur Impfung besteht und bewertet ihren Nutzen höher als die möglichen Risiken.
Bei ungeimpften Menschen könnten Hormone das Auftreten begünstigen, erklärt Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie: „In der späten Schwangerschaft, im Wochenbett und bei Frauen, die die Antibabypille einnehmen, sehen wir die Sinusvenenthrombosen am häufigsten.“ Die seltenen Blutgerinnsel könnten auch in Verbindung mit bakteriellen Infektionen auftreten.
In der Fachliteratur sind auch Fälle von Sinusvenenthrombosen beschrieben worden, die sich bei an Covid-19 Erkrankten bildeten. „Bei der Covid-19-assoziierten Sinusvenenthrombose ist es wahrscheinlich so, dass die allgemein erhöhte Thromboseneigung im Rahmen der Infektion ursächlich ist“, sagt Berlit. Bei Covid-19 kommt es zu einer massiven Hochregulation des Immunsystems, die die Gerinnungsneigung des Blutes steigern kann. Wie die Impfung zur Entstehung der seltenen Thrombosen beitragen könnte, ist bislang ungeklärt.
Vielfach wird der Vergleich zu weit öfter auftauchenden Thrombosen durch die Antibabypille gezogen. Ist das zulässig?
Bei Frauen, die die Antibabypille nehmen, erleiden rund 1100 pro einer Million jährlich eine Thrombose. Das Risiko ist also wesentlich größer als die Quote von Hirnvenenthrombosen, die nun untersucht wird. Doch beide Arten von Thrombosen sind völlig unterschiedlich und können nicht miteinander verglichen werden.
Bei den untersuchten Fällen von Hirnvenenthrombosen handelt es sich zum einen um eine sehr spezielle und seltene Form von Thrombose. Sie gehen wahrscheinlich auf eine Überreaktion des Immunsystems zurück. Zudem treten sie in Kombination mit einer weiteren Blutanomalie auf, die ebenfalls durch das Immunsystem hervorgerufen werden könnte. Das Krankheitsbild unterscheidet sich damit stark von den klassischen Thrombosen, wie sie durch Vorerkrankungen oder Medikamente wie die Antibabypille hervorgerufen werden.
Welche Folgen hat das Aussetzen von Astrazeneca auf das Impftempo?
Zehntausende Impftermine wurden bundesweit abgesagt, allein 20.000 in Thüringen. In Dänemark geht man bereits von einer Verzögerung um einen Monat aus. In Deutschland soll bis zum 21. September weiterhin allen Impfwilligen ein Angebot unterbreitet werden. Die Strattegie wackelt aber. Letztlich kommt es auf drei Faktoren an: Wann Astrazeneca wieder zugelassen wird. Ob es Einschränkungen für bestimmte Gruppen gibt, etwa junge Frauen. Und wie stark die Akzeptanz des Impfstoffes künftig leidet.
Zwischen Erst- und Zweitimpfung liegen bei Astrazeneca zwölf Wochen, theoretisch kann die Zweitimpfung Experten zufolge auch mit einem anderen Vakzin erfolgen, aber hierzu liegen bisher kaum wissenschaftliche Daten vor. Zudem könnte es sein, dass viele nun keine Zweitimpfung mit dem Stoff mehr wollen, weshalb Politik und Wissenschaft wohl einen Plan B für die Zweitimpfungen erarbeiten müssen.
Das Gesundheitsministerium betont, dass es zum Aussetzen des Impfens keine Alternative gab, auch wenn etwa Österreich und Großbritannien weitermachen. Spahn hat immer darauf verwiesen, dass Sicherheit und Vertrauen das oberste Gut bei der Impfkampagne seien. Bei der geimpften Personengruppe seien statistisch gesehen bei 1,6 Millionen Impfungen etwa 1 bis 1,4 Sinusvenenthrombosen zu erwarten – weit weniger als die nun sieben bekannten Fälle.
Der Staat habe eine besondere Sorgfaltspflicht, sagte Spahn. „Wenn diese Pflichten verletzt werden, und die Impfkampagne weiterlaufen würde, ohne die Bevölkerung und die zu impfenden Personen ordentlich aufzuklären, könnten auch rechtliche Konsequenzen drohen“, betont sein Ministerium.
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Es rächt sich jetzt der Kardinalfehler bei der EU-Impfkampagne. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach hatte bereits im Frühjahr 2020 gefordert, dass in den Monaten vor einem Impfstart die Produktionskapazität in Europa ausgebaut werden müssten. Die USA und Großbritannien haben das beispielsweise getan – während Europa viel langsamer vorankommt. In der gerade aufkommenden dritten Welle ist das eine Hiobsbotschaft.
Welche Alternativen gibt es?
Da aktuell auch Erzieherinnen und Lehrer verstärkt geimpft werden sollen, um die Virusausbreitung in Kitas und Schulen einzudämmen, kommen mehrere Optionen ins Spiel. Eine Streckung etwa zwischen Erst- und Zweitimpfung bei den zur Verfügung stehenden Stoffen von Biontech/Pfizer und Moderna, um verstärkt auch jüngere Bürger nun damit zu impfen. In Rheinland-Pfalz etwa werden Impftermine auf andere Impfstoffe umgestellt, wie das Landesgesundheitsministerium mitteilt. Astrazeneca-Impfungen in Krankenhäusern, bei Polizei und in Justizvollzugsanstalten würden aber bis zur Entscheidung über eine Wiederaufnahme der Impfungen ausgesetzt.
Zudem prüft die EMA derzeit die Zulassung weiterer Stoffe, zum Beispiel das russische Sputnik V.
Wie geht es jetzt weiter?
Eigentlich sollte es am Mittwoch eine Schaltkonferenz von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und den Chefs der Bundesländer geben, bei der auch über den Zeitpunkt, wann die Hausärzte mit den Impfungen in der Fläche starten sollen, gesprochenw erden sollte. Hier soll der einfach zu handhabende Impfstoff von Astrazeneca millionenfach zum Einsatz kommen.
Die EMA will am Donnerstag die Ergebnisse einer eigenen Untersuchung bekanntgeben – der Impfgipfel soll daraufhin erst am Freitagnachmittag stattfinden, um Lösungen zu beraten.
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