„Das ist ein Desaster für die Akzeptanz“: Britische Wissenschaftler verurteilen deutschen Astrazeneca-Impfstopp
In Großbritannien laufen die Impfungen mit dem Vakzin von Astrazeneca trotz der Nebenwirkungen weiter. Für die großen Sorgen gibt es dort wenig Verständnis.
Wie Deutschland haben inzwischen etliche andere Länder die Corona-Impfungen mit dem Präparat des britisch-schwedischen Konzern Astrazeneca nach Berichten über möglicherweise lebensgefährliche Nebenwirkungen zunächst ausgesetzt.
Am Dienstag ging auch die schwedische Gesundheitsbehörde diesen Schritt. Der britische Premier Boris Johnson warb dagegen für das in seinem Land schon millionenfach verwendete Vakzin. „Dieser Impfstoff ist sicher und wirkt extrem gut“, schrieb Johnson in einem Beitrag für die „Times“.
Der Impfstoff werde an zahlreichen Orten „von Indien bis zu den USA ebenso wie in Großbritannien hergestellt“ und auf der ganzen Welt eingesetzt. Unterstützung erhält der Premier von britischen Wissenschaftlern, die mit Unverständnis und Entsetzen auf den Impfstopp
reagierten.
Die Bundesregierung hatte die Vergabe des Astrazeneca-Impfstoffs am Montag auf Empfehlung des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) vorübergehend gestoppt, nachdem es neue Berichte über Fälle von sehr seltenen Thrombosen der Hirnvenen im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung gegeben hatte.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte betont, es handle sich um eine „reine Vorsichtsmaßnahme“. PEI-Chef Klaus Klaus Cichutek erklärte am Dienstag: „Es handelt sich nicht um Alarmismus, sondern um eine Vorsorge.“
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Der britische Experimentalmediziner Peter Openshaw verurteilte die Aussetzung von Impfungen mit Astrazeneca scharf. „Ich denke, das ist ein Desaster für die Akzeptanz von Impfungen in Europa, die in einigen Ländern ohnehin schon auf wackeligem Boden steht“, sagte der Forscher des Imperial College London am Dienstag der BBC. „Es ist sehr eindeutig, dass die Vorteile einer Impfung die mögliche Sorge vor dieser seltenen Art der Blutgerinnsel weit überwiegen“, sagte Openshaw.
Auch der britische Statistikprofessor David Spiegelhalter kritisierte die Entscheidung in Deutschland zum vorübergehenden Stopp der Impfungen mit dem Astrazeneca-Vakzin. „Angesichts von Ungewissheit ist es gut, vorsichtig zu sein. Aber in den derzeitigen Umständen mit steigenden Fallzahlen in Deutschland dürfte die Vorsicht es gebieten, schnellstmöglich so viele Menschen wie möglich zu impfen“, sagte der Professor an der Universität Cambridge der Deutschen Presse-Agentur am Dienstag.
Außerdem seien mögliche Schäden durch die Verstärkung von Vorbehalten gegen den Impfstoff zu bedenken. „Das sind schwierige Entscheidungen in ungewöhnlichen Zeiten“, so Spiegelhalter.
In einem Gastbeitrag im „Guardian“ hatte der Wissenschaftler am Montag davor gewarnt, kausale Zusammenhänge zu sehen, wo keine sind. Die klinischen Studien, die zur Zulassung des Astrazeneca-Impfstoffs in Großbritannien führten, und die Erfahrungen aus dem Impfprogramm in dem Land mit rund zehn Millionen verabreichten Dosen des Präparats hätten gezeigt, dass das Vakzin „außerordentlich sicher“ sei.
„In der Tat ist es vielleicht überraschend, dass wir nicht mehr Berichte über unerwünschte Wirkungen gehört haben“, schreibt Spiegelhalter. Es könnte durchaus ein extrem seltenes Ereignis geben, das durch Covid-19-Impfstoffe ausgelöst wird, „aber dafür gibt es bisher keine Anzeichen“, so der Wissenschaftler. „Wir können nur hoffen, dass diese Botschaft zu denjenigen durchdringt, die aufgrund der Fehlinformationen, die über die angebliche Schädlichkeit von Impfstoffen verbreitet wurden, und der wenig hilfreichen Kommentare einiger europäischer Politiker immer noch zögern.“
Der BBC sagte Spiegelhalter zu den Impfstopps, die zuvor auch in Irland und anderen europäischen Ländern veranlasst wurden: „Wenn das eine Verzögerung in der Verabreichung der Impfstoffe an Menschen bedeutet, die andernfalls eine Impfung bekommen hätten, dann wird das Schaden anrichten.“
WHO und EMA raten zur Nutzung des Astrazeneca-Impfstoffs
Ähnlich äußert sich Stephen Griffin, Assistenzprofessor für Medizin an der University of Leeds gegenüber dem britischen Science Media Centre. Zwar sollte den Bedenken nachgegangen werden, aber „die Wichtigkeit, die Impfprogramme fortzusetzen, kann gar nicht hoch genug geschätzt werden“.
Zuvor hatte der Konzern Astrazeneca versichert, dass es „keinerlei Beweis für ein erhöhtes Risiko einer Lungenembolie oder Thrombose“ gebe. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) rät zur weiteren Nutzung des Vakzins, teilte sie am Dienstag mit.
Auch die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) bekräftigte am Dienstag bei einer kurzfristig angesetzten Videokonferenz ihre bisherige Einschätzung. „Wir sind immer noch zutiefst überzeugt, dass die Vorteile des Astrazeneca-Impfstoffs bei der Vorbeugung von Covid-19 mit dem damit verbundenen Risiko eines Krankenhausaufenthalts und dem Tod das Risiko dieser Nebenwirkungen überwiegen“, sagte EMA-Chefin Emer Cooke.
Derzeit gebe es keine Hinweise darauf, dass der Impfstoff ursächlich für die Bildung von Blutgerinnseln verantwortlich sei. Die Zahl der aufgetretenen Fälle sei zudem nicht höher als in der Gesamtbevölkerung. Gleichwohl nehme die EMA die aktuelle Untersuchung des Astrazeneca-Impfstoffs „ernst“. Dabei werde auch untersucht, ob nur einzelne Chargen von Astrazeneca-Lieferungen betroffen seien. Die Ergebnisse der Untersuchung und eine Empfehlung für die weitere Verwendung des Impfstoffes werde die EMA am Donnerstagnachmittag bekanntgeben.