Vetos, Sanktionen – und das No-Deal-Risiko: Was beim EU-Gipfel in Brüssel alles schief gehen kann
Beim EU-Gipfel müssen die Staaten viele Konflikte bereinigen. Es geht um interne Streitigkeiten – aber auch um die Partner in London und Ankara.
Es wird wieder einmal - trotz Pandemie - ein persönliches Treffen sein, wenn die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten an diesem Donnerstag und Freitag in Brüssel zusammenkommen. Das physische Format auch dringend geboten, denn per Videokonferenz dürfte es bei den zahlreichen harten Brocken kaum Fortschritte geben.
Bei den EU-Finanzen und beim Klimaschutz haben sich die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft untereinander verkeilt. Und mit Blick auf Großbritannien und die Türkei geht es um das Verhältnis zu zwei ganz unterschiedlichen Partnern außerhalb des EU-Clubs.
EU-Finanzen
Wie es aussieht, haben Polen und Ungarn im Streit um den Rechtsstaatsmechanismus mit den anderen Mitgliedstaaten klein beigegeben. Eigentlich wollten sie mit dem Veto gegen das Finanzpaket mit einem Volumen von insgesamt 1,8 Billionen Euro diesen Mechanismus aushebeln.
Das Instrument sieht vor, dass EU-Staaten, die sich nicht an die demokratischen Werte der EU halten und damit gegen die Rechtstaatlichkeit verstoßen, den Zugriff auf EU-Mittel verlieren. Das gilt insbesondere dann, wenn EU-Gelder wegen fehlender Rechtsstaatlichkeit in dunklen Kanälen zu versickern drohen.
Der Rechtsstaatsmechanismus, auf den sich das Europaparlament und die anderen Mitgliedstaaten geeinigt haben, bleibt nach Informationen des Tagesspiegels unangetastet. Die Einigung sieht zudem kein Veto für die Mitgliedstaaten vor, wenn die Kommission einem Mitgliedstaat den Zugang zu EU-Mitteln streichen will. Es sei vielmehr in der Staatenkammer lediglich eine Aussprache über die Entscheidung vorgesehen.
Demnach ist vielmehr vereinbart, dass ein betroffenes EU-Land gegen die Entscheidung der EU-Kommission vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) ziehen kann. Solange das höchste europäische Gericht kein Urteil gesprochen hat, dürfe die Kommission den Rechtsstaatsmechanismus nicht anwenden. Da der EuGH mindestens zwei Jahre braucht, um ein Urteil zu fällen, hätte ein betroffenes Land Zeit, um sich auf den Mittelentzug vorzubereiten.
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft erörterte den mit Ungarn und Polen erreichten Kompromiss am Mittwoch im Kreis der EU-Botschafter. Die erste Aussprache sei positiv verlaufen, sagte ein EU-Diplomat anschließend. Es habe gleichzeitig „eine Reihe von konstruktiven Fragen“ gegeben. Jetzt beginne die vertiefte Analyse in den Hauptstädten, sagte der EU-Diplomat weiter.
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Möglicherweise kommt es beim Gipfel zu einer Entscheidung über den Rechtsstaatsmechanismus. Es gilt als nicht gesichert, ob die „sparsamen Vier“ - also Österreich, Niederlande, Schweden und Dänemark - zustimmen, die einen möglichst strengen Rechtsstaatsmechanismus wollen.
Auch das Europaparlament muss vermutlich noch zustimmen. Der deutsche Europa-Abgeordnete Moritz Körner (FDP) erklärte, das Ergebnis sei langfristig eine Niederlage für Ungarns Regierungschef Viktor Orban und und den Chef der polnischen Partei „Recht und Gerechtigkeit“, Jaroslaw Kaczynski. Körner kritisiert jedoch Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die als Vertreterin der EU-Ratspräsidentschaft für den Deal mit Ungarn und Polen verantwortlich ist.
Merkel habe „durch eine halbseidene Deklaration den Rechtsstaatsfeinden die Gesichtswahrung ermöglicht“. Er hätte stattdessen eine klare Ansage der Kanzlerin erwartet, "dass Korruption und Autokratie in der EU nicht geduldet werden". Mit dem Deal lasse Merkel zu, dass Orban bis zur nächsten Parlamentswahl in dem Land "ungeschoren" davonkomme. Und weiter: "Die Korruptionsregime in Ungarn und Polen sind angezählt."
Die EU-Kommission hatte bereits einen Alleingang der restlichen 25 EU-Staaten für den Fall vorbereitet, sollten Polen und Ungarn an dem Veto festhalten. In diesem Fall müsste die EU 2021 mit einem Nothaushalt statt mit dem MFF starten. Bei einem Nothaushalt könnten nur Mittel für die wichtigsten Politikbereiche fließen wie etwa für die Landwirtschaft.
Darüber hinaus wäre aber das Ziel, die Auszahlung von 750 Milliarden Euro aus dem Wiederaufbaufonds zu ermöglichen, die den Neustart der Wirtschaft nach der Pandemie anschieben sollen. Es wird überlegt, den Wiederaufbaufonds ohne die beiden Quertreiber Polen und Ungarn aufzulegen. Von den 750 Milliarden sollen 360 Milliarden als Darlehen und 312,5 Milliarden als Zuschüsse fließen.
Dem Verteilungsschlüssel für die erste Tranche der Zuschüsse ist zu entnehmen, dass Polen dann auf die geplanten 18,75 Milliarden verzichten müsste, im Fall von Ungarn liegt der Wert bei 4,34 Milliarden. Deutschland darf bei dieser ersten Tranche, bei der 70 Prozent der Mittel ausgezahlt werden, auf 15,21 Milliarden hoffen, Italien und Spanien jeweils auf über 40 Milliarden. In der zweiten Tranche sollen dann 93,75 Milliarden auf die Mitgliedstaaten verteilt werden - je nach Wucht, mit der die Pandemie die jeweilige Volkswirtschaft tritt.
Brexit
Ein Thema dürfte am Rande des Gipfels eine große Rolle spielen, auch wenn es gar nicht auf der Tagesordnung steht: das Endlos-Ringen zwischen der EU und Großbritannien um einen Handelsvertrag. Am Mittwochabend traf der britische Premierminister Boris Johnson die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen zum Abendessen in Brüssel.
Dabei wollten die beiden ausloten, wo Kompromisslinien in dem festgefahrenen Handelsstreit liegen. Es gibt einen erheblichen Zeitdruck, denn in drei Wochen scheidet Großbritannien aus den EU-Binnenmarkt und der Zollunion aus. Falls es demnächst keine Einigung über den Handelspakt gibt, werden Zölle zwischen der EU und Großbritannien fällig.
Bis zum Schluss der inzwischen seit neun Monaten andauernden Verhandlungen gibt es Differenzen über drei Themen: faire Wettbewerbsbedingungen, die künftigen Fangquoten für EU-Fischer in britischen Gewässern und der Mechanismus zur Streitbeilegung. Das Gespräch zwischen Johnson und von der Leyen gilt trotz des Zeitdrucks nicht zwangsläufig als Alles-oder-nichts-Moment.
Im Fall einer Annäherung zwischen dem Premierminister und der Kommissionschefin würden sich erneut der Brüsseler Chefverhandler Michel Barnier und sein Londoner Gegenüber David Frost über die strittigen Dossiers beugen, hieß es in London. Allerdings hatte Barnier vor den EU-Europaministern am Dienstag erklärt, dass er gegenwärtig einen „No Deal“ für wahrscheinlicher halte als den Abschluss einer Vereinbarung.
Falls sich die Hinweise in diese Richtung nach dem Treffen zwischen von der Leyen und Johnson verdichten sollten, könnten am Rande des Gipfels auch die Beratungen über einen No-Deal-Brexit intensiviert werden. Das Szenario ist in Brüssel in den vergangenen Monaten zwar immer wieder durchgespielt worden. Allerdings ändert sich die Lage, wenn die Gedankenspiele absehbar zur Realität werden.
Vor allem Irland wäre von einem "No Deal" wirtschaftlich stark betroffen, aber auch Deutschland: Allein in der Automobilindustrie wären hierzulande 15.000 Arbeitsplätze in Gefahr, falls zum Jahreswechsel neue Zölle erhoben werden.
Türkei
Vor allem Frankreich, aber auch Griechenland und Zypern setzen sich dafür ein, dass die bestehenden EU-Sanktionen gegen Ankara angesichts der türkischen Erdgasbohrungen und -erkundungen im östlichen Mittel ausgeweitet werden. Aber nicht nur der Gasstreit sorgt in Paris und anderen EU-Hauptstädten für Unmut.
Auch die Einflussnahme des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in den Konflikten zwischen Armenien und Aserbaidschan sowie in Libyen und Syrien hat dazu geführt, dass die EU ihren Sanktionskurs nun offenbar verschärfen will. Paris hat sich im Vorfeld des Gipfels eng mit Berlin abgestimmt, wo eher auf die Risiken einer Eskalation im Verhältnis zur Türkei hingewiesen wird. Beim Gipfel ist nun im Gespräch, weitere Firmen und Einzelpersonen aus der Türkei auf die bereits bestehende EU-Sanktionsliste zu nehmen.
Klimaschutz
Bis dato steht das Klimaziel für 2030 auf der Tagesordnung des Gipfels. Es ist unwahrscheinlich, dass es eine Einigung gibt, ohne dass zuvor der Streit mit Polen und Ungarn beigelegt ist.
Nachdem sich die Kommission für das Ziel „mindestens 55 Prozent“ weniger Treibhausgase im Jahr 2030 (verglichen mit 1990) ausspricht und das EU-Parlament eine Reduzierung um 60 Prozent fordert, sind die Mitgliedstaaten am Zuge. Es wird erwartet, dass die Staats- und Regierungschefs bei 55 Prozent oder leicht darüber landen.