Coronavirus zwischen Demokratie und Technokratie: Warum wir nicht nur auf Experten hören dürfen
Politik lebt von beratenden Spezialisten. Doch wer ihrer Expertise vertraut, darf nicht den eigenen Kopf an der Garderobe abgeben. Ein Kommentar.
Für die Demokratien dieser Welt, scheint es, sind finstere Zeiten angebrochen. Wohin man sieht, zehrt ein Regime angeblicher und tatsächlicher Sachzwänge die Handlungsspielräume auf.
Virologische und epidemiologische Experten flüstern den Politikern alternativlose Lösungen ein, und die kontrollierenden Gremien drücken bei verfassungsrechtlichen Bedenken beide Augen zu - wenn mit einem Notstandsgesetz wie in Ungarn die Gewaltenteilung nicht gleich ausgehebelt wird.
Technokratische Strukturen rücken an die Stelle demokratischer Strukturen. Es gibt nicht Wenige, die darin das dem historischen Augenblick einzig angemessene Rezept erblicken.
Und doch wäre nichts falscher, als eine Demokratiedämmerung auszurufen. Zum einen verfehlt es schon die gegenwärtige Praxis. Politik lebt von beratenden Spezialisten. Ihrer meist auf ein enges Feld begrenzten Expertise zu vertrauen, darf nur nicht heißen, den eigenen Kopf an der Garderobe abzugeben.
Auch Wissenschaftler haben Interessen
Denn nicht nur Politik, auch Wissenschaft beruht auf Voraussetzungen, Interessen, Werten, Annahmen, Modellen und Prognosen - kurz: Interpretationen, um die es zu streiten gilt.
Sonst gäbe es, bis in die Naturwissenschaften hinein, keine akademischen Kriege, keine Konkurrenz um Forschungsgelder und keinen Opportunismus gegenüber undemokratischen Herrschaftsformen: Der nationalsozialistische Hygienestaat war nur die höchste Pervertierung der Allianz von Wissenschaft und Macht.
Zum anderen sollte man nicht so tun, als hätten wir über Nacht ein Paralleluniversum betreten, das eine neue Moral erfordert. Wo man in Bezug auf die Brüsseler Verordnungswut zurecht von technokratischen Exzessen sprechen konnte, darf man es auch in Coronazeiten tun.
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Wo Viktor Orbán die Gunst der Stunde nutzt, um sich eine Machtfülle anzueignen, die man sonst nur von Potentaten wie Xi Jinping kennt, gehört er zur Räson gerufen. Und wo die repräsentative Demokratie zuletzt darüber nachdachte, den Parlamentarismus durch deliberative, den Laien einbeziehende Elemente zu ergänzen, um einer liberalismusfeindlchen Rechtsdrift entgegenzusteuern, hat sich das keineswegs erledigt. Der Einsatz ist nur gestiegen.
Wie reguliert Politik den Markt?
Was Jürgen Habermas 2013 im Titelessay seines Bandes „Im Sog der Technokratie“ als Prüfsteine einer europäischen Solidarität benannte, zählt nach wie vor, nur eben in existenziell verschärfter Form: Welches Gewicht kommt den einzelnen Nationalstaaten innerhalb der Gemeinschaft zu? Welche Rolle spielt Europa in einer aufeinander angewiesenen Weltgesellschaft? Und in welchem Maß reguliert Politik den Markt?
Alles drei gilt es politisch, nicht technokratisch auszuhandeln, wenn es darum geht, sowohl ein funktionierendes Gesundheitssystem wie eine stabile Wirtschaft als auch die bürgerlichen Freiheitsrechte aufrechtzuerhalten.
Experten haben dabei ein gewichtiges Wort. Man muss sich nur von der Idee verabschieden, sie seien eine von der Politik unabhängige Klasse. Der französische Starsoziologe und Philosoph Bruno Latour, dessen ganzes Werk der sozialen Konstruktion wissenschaftlicher Zusammenhänge nachgeht, betrachtet sie als Teil einer Öffentlichkeit, die in ihrer bisherigen Rollenverteilung so überholt ist wie die Trennung von Natur und Kultur, die sie hervorgebracht hat.
Latour, der in seinen Schriften immer wieder auf den Kampf des Mikrobiologen Louis Pasteur gegen die Anthrax-Epidemie, den Milzbrand des 19.Jahrhunderts, zurückkommt, arbeitete schon bei Phänomenen wie dem Ozonloch oder der Rindersuche BSE die menschenbedingten Faktoren heraus.
Mit seiner Akteur-Netzwerk-Theorie ist er ein Vordenker des Anthropozän, jenes erdgeschichtlichen Zeitalters, in dem die störende Einwirkung des Menschen auf den Planeten mehr zählt als dessen Selbststeuerung. Von daher ist es kein Wunder, dass Latour nun das Coronavirus als jüngsten Protagonisten seiner Überlegungen betrachtet.
Von der einfachen Kriegsrhetorik seines Präsidenten Emmanuel Macron fühlt er sich befremdet. In seinen jüngsten Aufsätzen (bruno-latour.fr) und Tweets fragt er lieber, ob es sich nach gewonnener Schlacht denn lohne, zu den gewohnten, überhitzten Routinen zurückzukehren. Darauf geben nur demokratische Auseinandersetzungen eine Antwort.
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