Berlinale-Eröffnung: Warum uns Kunst und Kultur so gefehlt haben
Run auf die Berlinale-Karten, auf Konzert- und Theatertickets: Nach der Sehnsucht nun endlich Lockerungen auch für die Kultur - die weit mehr ist als Freizeitbeschäftigung.
Kunst kommt von Feiern. Lange haben wir darauf verzichtet, mit dem Infektionsschutzgesetz schien auch diese Frühjahrssaison gelaufen zu sein. Die Kultur war auf null gesetzt, die Sehnsucht wurde umso größer.
Wie groß, beweisen die im Nu ausverkauften Berlinale-Filme und der Run auf die Theater- und Konzerttickets, jetzt, wo die Künste wieder mitspielen dürfen. An diesem Mittwoch wird das "Summer Special" der Berlinale eröffnet, fürs Berliner Publikum in zahlreichen Open-Air-Kinos der Stadt. Die Nächte sind lau, bestimmt wird es ein Fest. Und alle großen Bühnen der Stadt laden zu neuen Stücken, alleine vier Musiktheater-Premieren stehen am Wochenende ins Haus.
In all den Lockdown-Monaten hat die Politik der Kultur durchaus unter die Arme gegriffen. Zwei Milliarden Euro für das „Neustart Kultur“-Programm des Bundes verdoppeln das Jahresbudget von Kulturstaatsministerin Monika Grütters, hinzu kommt ein 2,5-Milliarden-Fonds für Ticket-Zuschüsse. Viele Hilfen lassen auf sich warten, aber gut, die Programme laufen bis Ende 2022. Anders als in Ländern ohne staatliche Subventionen, in den USA oder Großbritannien, sind die meisten Player deshalb noch da.
Gleichzeitig gilt: Die Solisten, die Selbstständigen haben es verdammt schwer. Und in den hitzigen Bund- Länder-Runden spielte die Kultur kaum eine Rolle. Die erhebliche Einschränkung der im Grundgesetz verankerten Kunstfreiheit wurde im Parlament nicht mal erwähnt – anders als die Ausgangssperre.
Das ist ärgerlich, weil Kunst eben nicht nur von Feiern kommt. Sondern auch von Nachdenken, vom Erkunden unserer selbst. Wenn die Kultur jetzt vielfach ins Freie geht, die Kunst aufs Feld, der Berlinale-Film unter den Sternenhimmel, ist das nur eine Übergangslösung. Denn die Kultur braucht Innenräume, intime Orte.
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Warum gehen wir ins Theater, hören Musik, gucken Filme? Weil wir dort wie im Brennglas erleben, was uns und die Welt im Innersten ausmacht. Weil wir Aufregendes erfahren über die Liebe und die Gewalt, die Höhenflüge und die niederen Instinkte, die Schwächen, die Schmerzen, die Macht, die Einsamkeit. Das, was nicht zu fassen ist, was sich nicht auf Slogans und Schlagzeilen verkürzen lässt.
Die Politik hat all das wohl im Hinterkopf, kann es aber nicht auf ihrer Agenda verhandeln. Deshalb ist Kultur kein Sahnehäubchen, sie beschränkt sich nicht auf Freizeitgestaltung. Kunst mag nicht systemrelevant sein, sie ist aber seelenrelevant. Und was wären die „Systeme“ ohne ihre Beseelung durch die Visionen, Bedürfnisse und Taten der Menschen.
Wer sind wir ohne das Publikum, fragten sich viele Kulturschaffende
Das Nachdenken über die eigene Relevanz hat der Kultur dabei nicht geschadet. Wer sind wir ohne die Zuschauer, beim Drehen ohne Filmstart, beim Proben ohne Premiere?, fragten sich viele. Kunst ist kein Selbstzweck: Mehr Publikumsnähe wagen, niedrigschwelliger werden, nachhaltiger, sich öffnen auch für die Digital Natives – das dürfen keine frommen Vorsätze bleiben. Vor allem nicht bei den staatlichen Institutionen.
Wobei die größte Herausforderung noch bevorsteht, wenn sich die darbenden Kommunen nach der Krise zu Kulturkürzungen gezwungen sehen – es deutet sich schon an. Die ersehnte Rückkehr zum Regelbetrieb, überhaupt zum „Betrieb“, kann nur ein Anfang sein. Mehr Marktgängigkeit, mehr Mainstream ist erst recht keine Lösung, denn die Verengung auf das Gefällige geht auf Kosten der Vielfalt und des Nachwuchses. Sie wäre ein Verrat an der Sehnsucht, am Glücksversprechen dieser lauen Sommer-Berlinale-Nächte.