Todesstrafe: Warum Staaten töten
Weltweit sitzen weit mehr als 17 000 Menschen in Todeszellen. Der US-Amerikaner Delbert Tibbs wurde für ein Verbrechen zum Tode verurteilt, das er nicht begangen hat. Er kämpfte gegen das Urteil, kam frei und erzählt vom Leben auf Abruf.
Ich saß zwei Jahre und zehn Monate im Todestrakt. 24 Stunden am Tag. Eingeschlossen in einer Zelle, 1 Meter 50 auf 2 Meter 10. Jeden zweiten Tag zehn Minuten duschen, zweimal die Woche eine Dreiviertelstunde oder eine Stunde Hofgang allein oder mit anderen. Wenn es nicht regnete und genug Sicherheitsleute da waren. Sonst nichts. Den Rest der Zeit saß ich allein in meiner Zelle.
Nichts verband mich mit der Tat, für die man mich verurteilt hatte. Nicht einmal die Beschreibung, die die junge Frau, das Opfer einer Vergewaltigung, bei der ihr männlicher Begleiter ermordet worden war, gleich nach der Tat in Florida den Polizisten gegeben hatte. Man hatte ihr später ein Foto von mir gezeigt, nachdem ich bei einer Straßenkontrolle angehalten worden war. Danach änderte sie die Beschreibung des Täters. Aus knapp 1,70 Meter groß, dunkle schwarze Haut und ein großer Afro-Look wurde ich: 1,90 groß, helle schwarze Haut und ein kleiner Afro.
Als die Jury mich für schuldig erklärte, befand ich mich in einem Zustand des Schocks. Ich habe es nicht geglaubt. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich mir nicht vorstellen können, dass ich tatsächlich schuldig gesprochen werden könnte. Aber ich hätte nicht geschockt sein sollen. Ich wusste um den Rassismus im Süden. Zu der Zeit, in den 70er Jahren, war dort ein junger Schwarzer, der beschuldigt wurde, eine junge weiße Frau vergewaltigt zu haben, praktisch schon verurteilt, bevor er den Gerichtssaal betreten hatte.
Bis zu dem Zeitpunkt war ich irgendwie entspannt. In den folgenden Stunden habe ich dann aber begriffen: Jetzt muss ich den Kampf aufnehmen. Nicht alle Todeskandidaten, die mit mir den Flur im Florida State Prison teilten, haben gekämpft. Manche haben sich auf die Gerichte verlassen. Manche waren nur verzweifelt und haben aufgegeben. Aber ich wusste nur eines. Ich würde nie akzeptieren, dass sie mir mein Leben nehmen. Ich war unschuldig.
Ich wurde sehr wütend, ich wurde sehr entschlossen. Es war ein Kampf um mein Leben.
Bei der Verhandlung hatte mir der Richter gesagt: Noch gilt das Moratorium. Florida und andere US-Staaten waren gerade auf Anweisung des Supreme Court in Washington dabei, ihre Gesetze zur Todesstrafe so zu verändern, dass sie mit der US-Verfassung im Einklang standen. Und bis das der Fall wäre, wurden keine Todesurteile vollstreckt. Wenn das Moratorium verlängert werde, würde meine Strafe lebenslang sein, sagte der Richter. Andernfalls käme ich in den Todestrakt. Es wurde nicht verlängert.
Doch ich entkam dem Tod. Der oberste Gerichtshof in Florida entschied im September 1976 mit einem 4:3-Votum, dass gar keine Beweise gegen mich vorlagen. Ich wurde damit nicht für unschuldig erklärt. Das konnte ich erst in einem neuen Prozess 1982 erreichen. Und 1977, im Januar des Jahres wurde ich entlassen, nahm Florida die Exekutionen wieder auf. Andere, mit denen ich den Flur geteilt habe, entkamen nicht.
Am 30.11.1983 starb mein Freund Robert Sullivan durch die Giftspritze. Sogar Papst Johannes Paul II. hatte sich beim Gouverneur für ihn eingesetzt. Aber vergeblich. Wir zwei hatten beim Hofgang Volleyball gespielt. Ich war innerlich zerstört. Mehrere meiner Freunde wurden exekutiert.
Die Todesangst durfte sich nicht bei mir einnisten
Als ich im Todestrakt saß, habe ich der Todesangst nicht erlaubt, sich bei mir einzunisten. Natürlich hatte ich Todesangst, natürlich war ich auch zeitweise verzweifelt. Aber ich gestattete meinem Geist nicht, sich in diese Richtung zu bewegen. Ich gab der Angst kein Heim. Ich sagte mir immer und immer wieder: Es wird nicht passieren. Die Angst kam, aber ich habe sie weggeschickt. Als schwarzer junger Mann in Chicago, unterwegs auf den Straßen der USA oder mit Güterzügen, auf die ich heimlich aufgesprungen war, wie es viele damals gemacht haben, hatte ich einige Erfahrung damit, gegen Angst anzukämpfen. Sie hatten vor, mich auf den elektrischen Stuhl zu schicken. Ich hatte vor, dass etwas anderes passiert. Und ich habe meinen Willen darauf konzentriert, dass ich das überleben würde. Dass ich leben werde, weil ich unschuldig bin. Das hat mir Kraft gegeben.
Aber ich war wohl auf unserem Gang am besten dran. Ich hatte Hilfe von draußen, von Anfang an. Meine Freunde und meine Familie haben mich besucht, wann immer es möglich war. Meine Freundin rief ein Verteidigungskomitee ins Leben. Meine engsten Freunde waren dabei, und sie wussten, wie man etwas organisiert. Es war in den 70er Jahren, die Zeit der Bewegung. Meine Freunde waren Organisatoren von Communityarbeit. Sie haben Spenden gesammelt, sie haben meine Geschichte erzählt, sie haben dafür gesorgt, dass die Fakten bekannt wurden. Und durch diese Unterstützung wurde mein Fall bekannt. Auch Prominente wie die Bürgerrechtlerin Angela Davis kamen zu mir ins Gefängnis und halfen, meine Unschuld zu beweisen.
Als der Florida Supreme Court dann festgestellt hatte, dass keine Beweise gegen mich vorlagen und ich entlassen wurde, mussten meine Familie, meine Freunde 990 000 Dollar Kaution zahlen. Zur Begründung hieß es: Ich könnte aus dem Land fliehen, weil ich einflussreiche Freunde habe.
Warum Staaten töten? Die ganz alltäglichen Menschen haben Angst, ganz besonders vor der Kriminalität in den Städten, aber auch auf dem Land. Politiker verkaufen ihnen die Idee, die Todesstrafe würde die bösen Jungs ängstigen und abschrecken. Das ist zwar lächerlich. Jeder, der darüber nachdenkt, weiß das. Aber die Leute mögen nicht gerne denken. Es ist, als ob man kleinen Kindern vom bösen Mann erzählt, der einen holen kommt. Und in meinem Land gibt es ohnehin eine Tradition der Gewalt. Wenn es ein Problem gibt, das sich nicht einfach lösen lässt, dann gehen wir in den Angriffsmodus. Eine Tradition, die auch den Staat mit Gewalt antworten lässt. Dazu passt, dass die Todesstrafe fast exklusiv für die Armen reserviert ist. Nein, es ist exklusiv für die, die arm sind, für die, die anders sind, welcher Hautfarbe auch immer. Es ist, als ob wir noch nicht erwachsen geworden wären. (aufgeschrieben von Barbara Junge)