FDP, Linke und Grüne klagen vor Bundesverfassungsgericht: Warum Karlsruhe das Wahlrecht der Groko stoppen soll
Die Opposition findet das neue Wahlgesetz von Union und SPD unklar und ungerecht. Sie beantragt eine einstweilige Anordnung in Karlsruhe.
Die Oppositionsparteien FDP, Linke und Grüne klagen gegen das neue Wahlrecht für den Bundestag, das die große Koalition im Herbst im Alleingang beschlossen hat. Aber mehr noch: Die drei Fraktionen verlangen vom Bundesverfassungsgericht, dass es Teile dieses Wahlrechts per einstweiliger Anordnung außer Kraft setzt.
Kämen die Richter dem nach, wäre zu klären, ob und wie bis zur Bundestagswahl am 26. September noch Änderungen nötig und möglich sind. Im Zweifelsfall müsste das alte Wahlrecht wieder angewendet werden.
Nach Ansicht der drei Fraktionen verstößt das schwarz-rote Wahlrecht gleich mehrfach gegen Verfassungsgebote. Laut der Klageschrift, die von der Düsseldorfer Rechtsprofessorin Sophie Schönberger verfasst wurde, widerspricht das Gesetz den Geboten der Normenklarheit, der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien. Daher sei das neue Wahlgesetz mit dem Grundgesetz unvereinbar – genannt werden die Artikel 20, 21 und 38- und daher nichtig. Schon in der Anhörung im Bundestag im Herbst waren erhebliche Zweifel laut geworden.
Muss der Bundeswahlleiter entscheiden?
Im Kern zielen Klage und einstweilige Anordnung darauf, dass nach Ansicht der Oppositionsfraktionen völlig unklar ist, wie zentrale Vorschriften des neuen Wahlgesetzes bei der Mandatszuteilung zu verstehen sind. Das Recht sei daher sehr auslegungsfähig.
„Es kann aber nicht sein, dass der Bundeswahlleiter nach der Wahl entscheiden soll, wie er die Sitzzuteilung dann vornimmt“, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Marco Buschmann. Man müsse eine Situation wie in den USA vermeiden, wo der Wahlkampf nach dem Tag der Präsidentenwahl mit einer Debatte um die Auslegung des Wahlrechts fortgesetzt worden sei. Der Bundeswahlleiter ist unabhängig, gehört aber zum Verantwortungsbereich des Bundesinnenministers.
Drei Überhänge bleiben unausgeglichen
In diesem Punkt der Klage geht es vor allem um die Entscheidung der großen Koalition, dass bis zu drei Überhangmandate künftig nicht ausgeglichen werden müssen. Solche Mandate entstehen, wenn Parteien über die Erststimmen mehr Direktmandate erringen, als ihnen nach dem Zweitstimmenergebnis – und damit dem Parteienproporz – eigentlich an Gesamtsitzen zusteht.
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Laut Britta Haßelmann, der Parlamentsgeschäftsführerin der Grünen, ist nicht klar, wie diese Regelung zu verstehen und damit vom Bundeswahlleiter umzusetzen sei. Gehe es um bis zu drei unausgeglichene Überhänge je Landesliste oder darum, sie bundesweit pro Partei vorzusehen oder im gesamten Wahlgebiet insgesamt für alle Parteien, fragte sie. „Es besteht keine Rechtsklarheit. Hier ist Unfähigkeit in der Koalition in Verfassungswidrigkeit umgeschlagen.“
"In sich widersprüchlich"
Schönberger betonte, dass das Gesetz in sich widersprüchlich und nicht vollständig sei. Bei der Rechtsanwendung durch den Bundeswahlleiter müsse daher „imaginiert“ werden. Aufgrund dieses Spielraums bei der Auslegung sei die Regelung gar nicht vollziehbar.
Dies sei auch der Grund, weshalb man den bei Wahlrechtsklagen ungewöhnlichen Schritt gegangen sei, eine einstweilige Anordnung zu beantragen. Das Ziel ist, dass die Karlsruher Richter diesen Passus des Gesetzes schon vor ihrer endgültigen Entscheidung außer Kraft setzen.
Der Linken-Abgeordnete Friedrich Straetmanns sagte, bei dem Wahlgesetz der Koalition handele es sich um eine „Mogelpackung“. Insbesondere die Union habe sich damit Vorteile verschafft – er spielte damit darauf an, dass Überhänge absehbar vor allem bei CDU und CSU anfallen werden. Stimmen für diese Parteien hätten dann ein höheres Gewicht, betonte Straetmanns.
Parteienverhältnis wird verzerrt
Aus diesem Grund enthält die Klageschrift einen Abschnitt, in dem eine Grundgesetzwidrigkeit – Verstoß gegen das Gleichheitsgebot - durch die Proporzverzerrung begründet wird, die durch den Nichtausgleich von drei Überhängen bewirkt wird. Schönberger stellte dazu fest, dass das Bundesverfassungsgericht ihrer Ansicht nach in einem früheren Verfahren keineswegs grundsätzlich entschieden habe, es seien bis zu 15 unausgeglichene Überhänge mit dem System der personalisierten Verhältniswahl vereinbar.
Es habe vielmehr gesagt, dass ein Nichtausgleich von Überhangmandaten möglich sei, wenn das Wahlrecht sicherstelle, dass es nicht zu mehr als 15 Überhängen komme. Das verhindert das schwarz-rote Gesetz aber nicht. Zudem seien von der Koalition drei unausgeglichene Überhänge ausdrücklich geschaffen worden, sagte Schönberger. Sie seien nicht Folge des Wahlrechts.
"Willkür darf nicht geduldet werden"
„Diese Willkür darf nicht geduldet werden“, betonte Haßelmann. Die Grünen-Politikerin wies darauf hin, dass zudem völlig unklar sei, aus welchen Landeslisten eigentlich Abgeordnete nachrücken, wenn Inhaber eines Überhangmandats ausscheiden.
Straetmanns sagte, als Klägerinnen seien sich alle drei Fraktionen des Vorwurfs bewusst, dass bei einem Erfolg in Karlsruhe der Bundestag noch größer werde als jetzt schon. Aber man dürfe mit Blick darauf auch nicht einfach ein als verfassungswidrig erkanntes Wahlrecht durchgehen lassen.
Allerdings ist die Dämpfungswirkung des Koalitionsmodells eher gering. Darauf stellen die Kläger in ihrem Antrag, der per Fax schon am Montag in Karlsruhe einging, auch ab. Beispielrechnungen auf Basis des Ergebnisses von 2017 zeigen, dass mit der schwarz-roten Reform nicht erheblich weniger Abgeordnete ein den Bundestag einziehen als im bisherigen System.
Kaum weniger Sitze trotz Reform
Die Änderung des Sitzzuteilungsverfahrens, das eine stärkere Verrechnung von Mandaten einer Partei über die Länder hinweg möglich macht, und das Zulassen von drei unausgeglichenen Überhängen bringt in vielen Modellrechnungen tatsächlich nur einen kleinen Vorteil.
Wie gering die Wirkung ist, zeigt auch die neue Projektion des Hamburger Wahlinformationsdienstes „election.de“. Demnach entsteht auf der Basis der aktuellen Umfragen mit dem neuen Wahlrecht ein Bundestag mit 745 Abgeordneten. Nach dem bisherigen Wahlrecht wären es ein Dutzend mehr. Der aktuelle Bundestag hat 709 Abgeordnete, die Ausgangsgröße liegt bei 598 Sitzen.
Aktuell 147 Abgeordnete "über normal"
Der Grund für die weitere Aufblähung des Parlaments liegt darin, dass die Union mit etwa 36 Prozent der Zweitstimmen nahezu alle Direktmandate gewinnt (laut Matthias Moehl von „election.de“ sind es 276 von 299). Das bedeutet, dass 54 Überhänge entstehen – die quasi durch das Zweitstimmenergebnis nicht gedeckt sind und ausgeglichen werden müssen, um einen annähernden Parteienproporz bei der Sitzverteilung zu schaffen. So kommen insgesamt 147 Mandate mehr zusammen, als es die Regelgröße vorgibt.
Das Abräumen von Direktmandaten durch die Union auch bei relativ niedrigen Erststimmenanteilen ist das Problem das Systems, dem durch das Verrechnen von Überhängen mit Listenmandaten dann nicht mehr beizukommen ist, wenn solche Listenmandate gar nicht oder kaum noch anfallen. Und das ist nach der aktuellen Kräfteverteilung, wie sich in den Umfragen zeigt, der Fall.