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Wie groß soll, wie groß darf der Bundestag sein?
© Tobias Schwarz/AFP

Wahlrechtsreform von Union und SPD in der Kritik: „Ein Gesetz, das Verrückte macht“

Das neue Wahlgesetz der Koalition ist noch komplexer als das alte. Aber ist es auch verfassungswidrig? Experten sind da unterschiedlicher Ansicht.

Er werde nachts derzeit gelegentlich wach, weil er sich ärgere, erzählt Friedrich Straetmanns. Der Westfale, Linken-Abgeordneter im Bundestag und im eigentlichen Beruf Richter, ist der Wahlrechtsexperte seiner Fraktion. Und das Wahlrecht lässt ihn jetzt nachts nicht mehr durchschlafen. Weil er den Reformentwurf der Koalitionsfraktionen so schlimm findet.

Ginge es nach ihm, wäre die Klageschrift wohl in dem Moment unterwegs nach Karlsruhe, wenn sich am Donnerstagnachmittag die Abgeordneten von CDU, CSU und SPD für den Gesetzentwurf stimmen, dessen Grundzüge der Koalitionsausschuss Ende August beschlossen hatte.

Straetmanns hat ernsthafte Zweifel daran, dass die Reform verfassungsgemäß ist. Und er ist da nicht allein. Am Montag wurde in der Anhörung von Experten im Innenausschuss des Bundestags deutlich, dass alle von der Opposition geladenen Fachleute ebenfalls glauben, dass der Entwurf mit dem Grundgesetz und der bisherigen Karlsruher Rechtsprechung nicht vereinbar ist.

Selbst der renommierte Augsburger Mathematiker Friedrich Pukelsheim, ein international geachteter Wissenschaftler, den die SPD nach Berlin geladen hatte, äußerte seine Zweifel. Einzig der Heidelberger Juraprofessor Bernd Grzeszick, seit Jahren als von der Union geladener Sachverständiger bekannt, hielt dagegen.

Noch mehr Abgeordnete nach der Reform?

Der Politologe Joachim Behnke von der Zeppelin-Universität Friedrichshafen (von der FDP nominiert) und der von den Grünen geladene Robert Vehrkamp, Politikwissenschaftler bei der Bertelsmann-Stiftung, waren sich beide sicher, dass der Entwurf in Karlsruhe scheitern wird.

So wie sie auch beide davon ausgingen, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit im kommenden Jahr mit dem neuen Wahlgesetz ein Bundestag gewählt werden wird, der noch mehr Abgeordnete hat als jetzt. 709 Sitze hat das aktuelle Parlament, wegen Überhängen und Ausgleichsmandaten 111 mehr als die Ausgangsgröße von 598 Sitzen. Ziel der Reformbemühungen im Parlament war, eine solche Aufblähung künftig zu unterbinden und ein deutlich geringere Mandatszahl zu erreichen – was aber fraktionsübergreifend nicht gelang, weil die Union bis in den Sommer hinein die Vorschläge der anderen Fraktionen ablehnte.

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Das Ziel lautete nun, zumindest nicht mehr Sitze zu bekommen als jetzt. Am Ende verständigte sich die Koalition auf einen Minimalkompromiss, nach dem die Möglichkeit der Verrechnung von Überhängen in einem Bundesland mit Listenmandaten in einem anderen Land eine dämpfende Wirkung haben soll. Die zweite Dämpfungsmaßnahme ist, dass drei Überhänge ohne Ausgleich bleiben sollen. Zudem sollen 19 Wahlkreise wegfallen, aber erst zur Wahl 2025.

Geringe Wirkung der Dämpfung

Die Wirkung der beiden für 2021 geplanten Maßnahmen ist gering. Je nach Ausgang der Wahl kann es zwar dazu kommen, dass am Ende schon deutlich weniger als 700 Abgeordnete in den Bundestag einziehen. Aber weit größer ist die Wahrscheinlichkeit angesichts der aktuellen Umfragen und der auf Erfahrungswerten aufbauenden Prognosen, dass es mindesten wieder so viele werden wie 2017 oder eben auch deutlich mehr.

Die Webseite „mandatsrechner.de“ hat Ergebnisse vieler Umfragen seit 2012 als Berechnungsgrundlage auf den schwarz-roten Gesetzzentwurf angewendet. Das Ergebnis: Im Schnitt wäre der Bundestag um 16 Sitze kleiner als nach dem noch geltenden Wahlrecht, das einen Vollausgleich der Überhänge vorsieht. Im Durchschnitt hätte die Größe des Parlaments bei 736 Abgeordneten gelegen.

Und da aktuell die Umfragen auf sehr viele Überhänge der Union hindeuten (was natürlich nicht so kommen muss, aber eben kann), ist derzeit ein Bundestag von mehr als 750 Sitzen möglich. Nach der Prognose des Informationsdienstes „election.de“ kommen CDU und CSU auf mehr als 270 der 299 Direktmandate, bei einem guten Drittel der Zweitstimmen, also einem Ausgangsanteil von 220 bis 230 der 598 Mindestsitze. Bei vierzig, fünfzig oder am Ende gar sechzig auszugleichenden Überhängen wirken die Dämpfungsschritte natürlich kaum.

Wann kommt eine Klage - wenn sie kommt?

Ob es zu einer sofortigen Klage in Karlsruhe kommt, ist noch unklar. Die Kräfteverhältnisse in der Anhörung der Experten als Maßstab zu nehmen, wäre verfehlt. Denn tatsächlich ist die Sache nicht ganz so einfach. Ist es tatsächlich ein Verstoß gegen die Erfolgswertgleichheit der Stimmen (ein in Karlsruhe stets besonders betonter Aspekt bei einer Verhältniswahl), wenn durch die Verrechnung von Überhängen mit Landeslisten eine Verzerrung des föderalen Proporzes entsteht und – wie Pukelsheim vorrechnete – die CDU in Hamburg und Niedersachsen weniger Mandate bekämen als im jetzigen System.

Gar nicht mit dem Verlust von Landeslistenmandaten „bezahlen“ muss für eigene Überhänge zudem die CSU, weil sie ja nur in Bayern antritt. Und was ist, wenn die CDU so viele Überhänge hat, dass die Landeslisten gar nicht ziehen?

Pukelsheim nennt es auch problematisch, in dem Entwurf weiterhin eine Sollgröße von 598 Sitzen zu postulieren, die mit der schwarz-roten Reform praktisch nie zu erreichen ist.  Grzeszick dagegen hält die föderale Verzerrung für grundgesetzkonform, weil ja das bundesweite Ergebnis einer Partei mit Überhängen weiter proportional sei.

Verzerrt, aber grundgesetzwidrig?

Doch wie ist es dann mit den drei unausgeglichenen Überhängen? Diese verzerren gegebenenfalls das bundesweite Verhältnis der Parteien, im Augenblick zugunsten der Union. Damit wäre die Erfolgswertgleichheit ebenfalls berührt.

Aber das Verfassungsgericht hat in einem Urteil 2012 einmal festgestellt, dass als Ergebnis einer personalisierten Verhältniswahl – verstanden als Verbindung von Mehrheitswahl in Wahlkreisen mit garantiertem Direktmandat für den besten Bewerber und der Bestimmung des Sitzverhältnisses im Bundestag über die Zweitstimmen – bis zu 15 unausgeglichene Überhänge hinnehmbar seien.

Doch das Urteil basierte auf dem bis 2013 gelten Wahlgesetz. Die nunmehr drei Überhänge, die nicht auszugleichen sind, werden in das seither geltende Wahlsystem eingefügt, das Ausgleichssitze vorsieht, um den Parteienproporz abzubilden. Ist das dann noch grundgesetzkonform?

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Der von der AfD als Sachverständiger geladene Jurist Ulrich Vosgerau bezeichnete Überhänge als Folge von „Zweitstimmenmangel“ – was zur für ein Verfahren in Karlsruhe relevanten Frage führt, wie das Verhältnis von Erst- und Zweitstimme zu bewerten ist. Die Düsseldorfer Wahlrechtsexpertin Sophie Schönberger, von der Linken benannt, nannte die drei unausgeglichenen Überhänge als „Bonusmandate“ für eine Partei mit Überhängen. Diese dienten nicht dem Anliegen der Personalisierung der Wahl.

Für Normalbürger unverständlich

Schönberger betont auch einen sozusagen ästhetischen Aspekt des neuen Wahlgesetzes der Koalition: Es ist in Teilen kaum noch zu verstehen, jedenfalls nicht für Normalbürger (und die Anhörung zeigte, dass alle Sachverständigen hier einig waren – es ist noch komplexer als das aktuelle). Oder wie die Rechtsprofessorin sagte: „Es ist ein Gesetz, das Verrückte macht.“

Dabei hatten die Karlsruher Richter, herausgefordert durch die damals schon schwer zu erklärende Wahlrechtssystematik, den Bundestag angeregt, künftig verständlichere Wahlgesetze zu erlassen. Das kann man als Auftrag interpretieren, es könnte daher nun ein weiterer Klagepunkt werden. Laut Schönberger wird der Entwurf der Koalition der gebotenen Normenklarheit nicht gerecht. Es müsse schon „in groben Zügen erkennbar und verständlich“ sein, wie sich die Stimmen der Wähler in Mandate umsetzten, schreibt sie in ihrem Gutachten.

„Es führt kein Weg an einer Klage in Karlsruhe vorbei“, sagt Straetmanns. Aber bei seinen Linken, der FDP und den Grünen dürfte noch ein Weilchen gegrübelt werden, ob und wann eine Klage gegen das Gesetz, so es am Donnerstag so verabschiedet wird, sinnvoll ist. in den Die Parlamentsgeschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann, sagte nach der Anhörung, „die Scheinreform der Koalition verfehlt komplett das eigentliche Ziel, den Bundestag wirksam zu verkleinern“.

Und fügte hinzu: „Sie werden im kommenden Wahljahr den Menschen erklären müssen, warum der kommende Bundestag vermutlich so weit anwachsen wird, dass die Arbeitsfähigkeit des Bundestages belastet ist.“ 

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