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Zeit für den Abschied?
© Karikatur: Klaus Stuttmann

Roger Boyes: Wie Berlin uns alle betrügt

Roger Boyes hat es satt: Nach 20 Jahren ist es höchste Zeit, diese Stadt zu verlassen. Sie ist von der Narkolepsie befallen, der Schlafkrankheit - und nicht nur das. Ein Wahl-Berliner denkt über den Ausstieg nach.

Es war nur ein kurzer Moment, wie die zwei Schlucke, die man für einen doppelten Espresso braucht, aber er war lang genug, um mich davon zu überzeugen, dass ich Berlin verlassen muss und dass ich ein unterbrochenes Leben wieder aufnehmen muss.

Zu faul zum Einkaufen war ich zum Frühstücken ins Kempinski gegangen. Zwei Amis aßen „Eggs Benedict“ an einem Tisch am Fenster, und ich versuchte, wie ich es immer tue, dem Gespräch zu folgen. Es waren offenbar Geschäftsleute, die sich überlegten, ob sie in Berlin investieren sollten. Wie in dem alten Walter-Mehring-Lied: „Die Geier saßen beim/Petit-Déjeunier’n,/was Geier so frühstücken/wenn sie regieren.“

„Die Preise sind im Keller“, sagte der eine, dünngesichtig, aber mit einem kleinen Bauch, der an die Tischkante stieß. Ich folgerte, dass sie über den Berliner Immobilienmarkt sprachen. „Aber die Gewinne auch“, sagte sein Gegenüber. „Vergiss es, die deutschen Mietgesetze sind ein Albtraum. Lass die Finger von Berlin.“

Lass die Finger von Berlin! Am Nachbartisch jubelte ich innerlich. Großartig! Wer will schon, dass die Ausländer unsere Stadt aufkaufen? Und uns ihre fremde Regeln und Vorstellungen aufzwingen? Besucht Berlin – jederzeit; ja, gebt hier euer Geld aus; bewundert die Stadt. Und dann haut, um Gottes Willen, wieder nach Hause ab.

Für mich war das ein Wendepunkt. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich mich in einen Berliner Mikrochauvinisten verwandelt hatte, einen Fast-Einwohner dieses Asterix-artigen Dorfes, das sich so entschieden gegen alles Ausländische und Merkwürdige zur Wehr setzt. Nach zwanzig Jahren war ich das Opfer der Spree-Version vom Stockholm-Syndrom geworden. Ich hatte mit dem Feind geschlafen. Es war höchste Zeit, das alles zu beenden.

Viele Engländer behaupten natürlich, Berlin zu lieben. Das banale Lifestyle-Magazin „Monocle“ hat gerade auf seiner Liste der lebenswertesten Städte der Welt Berlin an die achte Stelle gesetzt – nach Helsinki (Nummer eins) und München (Nummer vier), aber, zur großen Befriedigung, noch vor Tokio und Madrid. Die Preisrichter mochten die S-Bahn – sie hatten den Berlin-Test offenbar nicht im Winter durchgeführt – und das Preis-Leistungs-Verhältnis, die Grünflächen, die Fahrradwege. Das freut einen.

Und doch gibt es einen großen Unterschied zwischen Berlin und den anderen Gewinnern: Städte wie Melbourne und Zürich sind nicht nur lebenswert, sie sind auch offen für Wandel. Man spürt, dass sie bereit sind, neue Ideen umzusetzen, Geld zu verdienen, und dass Ausländer dort nicht einfach nur geduldet, sondern willkommen geheißen werden als Teil des urbanen Abenteuers. Diese Stimmung, die ich als Student im West-Berlin der 70er Jahre kennengelernt hatte, existiert nicht mehr.

Lesen Sie auf Seite 2: Dieter Kosslick ist ein Aushängeschild von Berlin. Leider ist er in Wahrheit nicht von hier.

Aber was bringt sie, diese Wessi-Nostalgie, die D-Mark-Wehmut? Meistens ist das ohnehin nur Ausdruck von verzerrter Erinnerung. Berlin, das neue Berlin, hat seine eigenen Stärken und Tugenden. Bis vor kurzem waren die Argumente für Berlin noch ausreichend stark, um mich davon zu überzeugen, dass ich so lange in dieser Stadt bleiben würde, bis ich auf dem Selbstmörderfriedhof im Grunewald lande. Neben den traurigen Exilanten des weißen Russlands, die sich in den 20er Jahren in die Havel gestürzt haben, neben Nico von „Velvet Underground“ und all den anderen lebensmüden Berlinern, denen die Kirche nur einen Platz im Wald zubilligen wollte. Es ist ein schöner Ort, ein Berliner Endpunkt, an dem nur die Eichhörnchen aggressiv sind.

Und die Hauptstadttugenden? Gibt es die? Mit den Jahren habe ich sie besser verstanden. Berliner sind gute Gastgeber. Nicht so sehr, dass sie einen zu sich nach Hause einladen – das können sie auch und dann bestehen sie oft darauf, dass man die Schuhe auszieht, um das Parkett nicht zu zerkratzen –, sondern weil sie bereit sind, eine Show zu veranstalten. Für mich ist der Berlinale-Chef Dieter Kosslick einer der großen Gastgeber der Welt, der all die Klischees über die Berliner aufhebt, weil er einfach charmant, einfühlsam und gut organisiert ist (er ist natürlich in Wahrheit auch nicht von hier).

Außerdem nehmen Berliner Freundschaften ernst. Eine Berliner Männerfreundschaft hat eine geradezu sizilianische Qualität. Man muss Tests bestehen und Aufgaben erfüllen, Loyalität wird so genau abgemessen wie die Medizin beim Apotheker. Berliner Freunde fordern, dass man die Freundschaft pflegt, natürlich über einem „Köpi“, aber auch mit Zeit und gutem Zuhören. Enttäuscht man einen Berliner, wird einem nicht verziehen. Mir gefällt diese Form des Absolutismus, auch wenn sie dazu geführt hat, dass mit der Zeit aus ein paar alten Freunden Feinde geworden sind.

Berlin ist auch eine Stadt von Philanthropen, Menschen wie Hans Wall und Roman Skoblo, die viel Hirnschmalz darauf verwenden, wie man diese Stadt verbessern könnte. Die Berliner misstrauen diesen stillen Gebern, weil sie Philanthropie für ein vulgäres Darstellen von Reichtum halten. Doch sie täuschen sich: Diese Menschen stellen eine Tradition des Stadtstolzes dar, die es in diskreter Form seit dem späten 19. Jahrhundert hier gibt.

Wie könnte man nicht Bewunderung empfinden für eine solche raue, authentische Sub-Metropole und ihr Bestreben, die eigenen Unvollkommenheiten zu überwinden? Alfred Kerr zitiert einen Franzosen (er ist sich nicht sicher, welchen): „En te perdant je sens que je t’aimais.“ (Jetzt, wo ich dich verloren habe, merke ich, dass ich dich liebte.) Vielleicht muss man, in diesem Sinne, Berlin verlieren, um es lieben zu können. Vielleicht wird mein Herz aufgehen, sobald ich die Abmeldebestätigung vom Bürgeramt Wilmersdorf in Händen halte.

Aber die Wahrheit, meine Wahrheit, ist: Berlin, das so lange Zeit so schlecht geführt worden ist, hat uns alle betrogen, die wir dachten, wir könnten uns in die Stadt verlieben. Einige ältere Berliner erzählen, dass die Stadt in den vergangenen zehn Jahren herber und selbstbezogener geworden sei. Doch auch das trifft es nicht richtig. Es geht nicht um den Ton der Stadt, so grob wie er ist, sondern um den Rückzug aus den Realitäten des modernen Europa, dieses gewollte Unvermögen, sich den Begleiterscheinungen einer beschleunigenden Welt zu stellen oder mit ihnen gar in Einklang zu kommen.

Auf Seite 3 lesen Sie: Touristenzahlen sind nicht die Messlatte für internationales Flair

Die Stadt hat es zugelassen, dass sie unter einer Folge von mittelmäßigen Politikern, an deren Spitze Klaus Wowereit zu nennen ist, zu einer zweitklassigen Hauptstadt wurde. Es tut mir leid, dass ein Ausländer das sagen muss, vor allem einer, der auf gepackten Koffern sitzt (Kerr sagt: „Scheiden sind Küsse, Küsse, Küsse; und Wiedersehen ist ein Lächeln“), aber sonst sagt es ja keiner. Der Regierende Bürgermeister als allerletzter. Er erzählt lieber „Bild“, Berlin habe „eine besondere Anziehungskraft – nicht zuletzt die Touristenzahlen zeigen das“.

Aber halt, Herr W., ins Disneyland nach Florida kommen auch viele Touristen. Es ist attraktiv für eine bestimmte Art von Menschen (die meisten davon sind neun und jünger) und auch nur für maximal drei Tage. Touristenzahlen sind nicht die Messlatte für internationales Flair. Oder Ausdruck des Einflusses einer Stadt. Was die Probleme Berlins betrifft, müsse eben der Bund mehr zahlen, sagt Wowereit: „Da könnte es noch mehr Unterstützung geben.“ So spricht kein Politiker, der eine Vision hat. Vor allem klingt es genauso wie das, was Klaus Wowereit vor fünf Jahren gesagt hat. Es tut mir im Herzen weh, dass sich damit ein weiterer Berliner Politiker der Verantwortung entzieht.

Es war einmal eine Zeit, da war Berlin Europas Avantgarde. Franz Biberkopf in Döblins „Berlin Alexanderplatz“ bewegt sich ständig hin und her zwischen dem Chaos der Stadt und der wahren Sinnkrise, für die die Stadt steht. Berlin hatte immer Probleme, nicht immer waren sie selbst verursacht, aber nie hat die Stadt sie überwunden, indem sie still stand.

Ganz wörtlich war Berlin die Stadt der Beschleunigung. Die Avus, 1921 mit Hilfe privaten Geldes fertiggestellt und weltweit die erste Straße ausschließlich für Autos, war technisch herausragend. Obwohl sich Berlin heute mit weniger Verkehr herumschlagen muss als irgendeine andere europäische Metropole, ist die Stadt gelähmt durch sinnlose Staus. Ein Verkehrskonzept, das sich damit auseinandersetzt, ist nicht zu erkennen.

Es ist nicht Berlins Schuld, dass die geschmeidigen ICEs, die ganz Europa voller Neid betrachtet, auf ein Schneckentempo abbremsen müssen, sobald sie nach Brandenburg kommen. Und doch ist es typisch für das Dilemma der Stadt: Je schneller sich die Welt bewegt, desto statischer wirkt Berlin.

Zu Biberkopfs Zeiten herrschte in Berlin eine natürliche Dynamik; die existiert heute nicht mehr. Die Stadt gilt weltweit als cool, weil es ein Ort der großen leeren Räume ist – Räume für Clubs und Kunstgalerien. Kinder aus der Provinz, nicht nur die aus den Dörfern Baden- Württembergs, sind von der Stadt fasziniert, weil sie hier Drogen nehmen und nachts ewig aufbleiben können, ohne dass ihre Eltern es erfahren.

Aber die Clubs und Galerien machen zu, weil die spendierfreudigen Sammler fehlen, all jene, die ihr Geld nicht nach neun Monaten wieder abziehen. Und deshalb gehen die jungen Internetfirmen schon wieder pleite – weil ihnen das Kapital fehlt. Märkte schrumpfen, dann verlieren die Banken das Vertrauen. Das Beste an Berlins Brachen ist, dass sie sich wunderbar als Versteck für flüchtige Verbrecher eignen. Bricht jemand aus einem Knast in Nordrhein-Westfalen aus, geht der erste Anruf ans Berliner Landeskriminalamt.

Es wäre zu billig und auch absurd, für Berlins Narkolepsie, für diese Schlafkrankheit, die die Stadt befallen hat, allein die politische Klasse verantwortlich zu machen. Wir alle kennen die tiefen kulturellen Wurzeln dieser Stasis. Einer Stadt, die mit Subventionen vollgepumpt wurde wie ein Ringer mit Steroiden, fällt es natürlich schwer, geradeaus zu laufen oder geradeaus zu denken. Kein Wunder, dass man hier Größe mit Kraft verwechselt. Und natürlich wissen die Politiker in einer solchen Stadt gut, wie man Staatskohle ausgibt, und weniger gut, wie man spart; sie bedienen ihre Klientel statt Ideen zu entwickeln, die die Stadt voranbringen würden. Und wir lassen das zu.

In all den Jahren habe ich mir nicht viele Freunde gemacht, und vermutlich wird dieser Artikel meine Chancen, Ehrenbürger dieser Stadt zu werden, auch nicht dramatisch verbessern. Man macht sich nicht beliebt, wenn man versucht, jemanden am Morgen zu wecken. Ich werde Berlin mit all seinen Schwächen und Verrücktheiten immer schätzen, das große sentimentale Herz der Stadt, ihre Eitelkeit und den beißenden Humor. Ja, vielleicht liebe ich diese Stadt und ihre Menschen sogar.

Aber es ist Zeit, Goodbye zu sagen – und nicht mit Kuss, Kuss, Kuss.

Der Autor war Deutschland-Korrespondent der "Times" und 15 Jahre Kolumnist dieser Zeitung. Jetzt kehrt er zurück nach London, als "Diplomatic Editor".

Aus dem Englischen übersetzt von Moritz Schuller.

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