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Rasch in die Schule - oder erst warten? Ein junger Eritreer beim Unterricht in einer Berufsschule im hessischen Gießen.
© Frank Rumpenhorst/dpa

Nach Vorschlag von Andreas Bausewein: Warum die Schule für junge Flüchtlinge wichtig ist

Erfurts Oberbürgermeister Bausewein will Kinder ohne sicheren Aufenthaltsstatus nicht in deutschen Schulen sehen. Das ist rechtlich wie pädagogisch problematisch.

Er will Geld, eine längere Liste sicherer Herkunftsländer und rasche Abschiebung derer, die ihr Asylverfahren nicht bestehen – so weit sind die Forderungen, die Erfurts Oberbürgermeister Andreas Bausewein in seinem Brief an die Kanzlerin und Thüringens Ministerpräsidenten Ramelow formuliert, nichts Außergewöhnliches. Punkt drei des Briefs hat es allerdings in sich: Der Sozialdemokrat fordert da das „Aussetzen der Schulpflicht bis zur Feststellung des Aufenthaltsstatus der Kinder/Familien“. Dass sie schon die Schulbank drücken, bevor überhaupt klar ist, ob sie und ihre Eltern als Asylbewerber anerkannt sind, will Bausewein verhindert sehen, durch eine, wie er schreibt, „Änderung der Gesetzlichkeit zur Schulpflicht“. Es fehlten Klassenzimmer – die Kosten für deren Herrichtung beziffert er auf 6000 Euro pro Raum – eventuell Schulen neu gebaut werden.

Deutschland war vor 400 Jahren Pionierin der Schulpflicht

Die Gesetzesänderung allerdings, die Bausewein fordert, wird kaum möglich sein, ohne dass Deutschland, wo 1592 weltweit zum ersten Mal die Schulpflicht für Mädchen und Jungen eingeführt wurde,  internationale Abkommen verletzt. Das UN-Kinderhilfswerk Unicef zeigte sich am Dienstag alarmiert über Bauseweins Brief und verwies auf die UN-Konvention über die Rechte des Kindes, die den Ausschluss von Kindern aus der Schule und von Bildung verbietet. Auch Deutschland hat sie 1992 ratifiziert. Schulpflicht besteht zudem in Deutschland für alle 6- bis 16-Jährigen, sie bekam in Deutschlands erster demokratischer Verfassung, der von Weimar, 1919 sogar Verfassungsrang. Wegen der Kulturhoheit der Länder gibt es freilich Unterschiede im Detail. Einen Sonderstatus für nichtdeutsche Kinder gibt es nicht. Beziehungsweise: Es gibt ihn nicht mehr. Bis in die 60er Jahre hinein waren ausländische Kinder ausgenommen, noch bis in dieses Jahrhundert hinein hatten die  Söhne und Töchter von Asylbewerbern in einigen Bundesländern zwar das Recht auf den Schulbesuch, aber keine Pflicht dazu – also etwa der Zustand, zu dem Bausewein jetzt zurückmöchte.

Kinder von Illegalen bis vor kurzem unter Sonderrecht

Und noch bis vor vier Jahren standen die Kinder von Eltern ohne Papiere faktisch unter Sonderrecht. Erst 2010 ließ das Bundeskabinett den letzten Vorbehalt gegen die Kinderrechtskonvention fallen – er betraf eben die Lage von Flüchtlingskindern – und im Juli 2011 beschloss der Bundestag nach jahrelanger Diskussion das Ende der Pflicht für Schulen und Kitas, die Kinder sogenannter „Illegaler“an die Ausländerbehörden zu melden. Einige Länder hatten die Vorschrift bereits früher gelockert, einige Schulleiterinnen und –leiter sich nicht daran gehalten. Sie argumentierten, dass das Menschenrecht auf Bildung verletzt werde, wenn Kinder nicht zur Schule geschickt würden, weil die Eltern fürchten müssten, als Illegale entdeckt und abgeschoben zu werden. Petra Follmar-Otto vom Deutschen Institut für Menschenrechte weist darauf hin, das Bauseweins Forderungen inzwischen auch auf eine grundsätzliche rechtliche Grenze stößt, die national wie international anerkannt ist: "Kinder sind selbst Menschenrechtsträger." Ihr Recht auf Bildung könne nicht unter Verweis auf den Status ihrer Eltern beschnitten werden.

Erziehungswissenschaftlerin: Sofort rein in die Schulen 

Die Forderung von Erfurts OB hat aber auch eine soziale und politische Seite. „Schule hat eine extrem hohe Priorität, wenn es um die Verantwortung für Kinder, gerade die Verantwortung des Staats geht“, sagt Yasemin Karakasoglu. Die Pädagogik-Professorin und Konrektorin der Universität Bremen für Interkulturalität, bestreitet nicht, dass die Kommunen und Schulen aktuell große Schwierigkeiten haben. Sie kennt sie aus Bremen, wo sie in die Bewältigung der aktuellen Lage eingebunden ist: „Vorletztes Jahr hatten wir 50 unbegleitete Minderjährige, in diesem Jahr bisher schon 500. Das ist keine Kleinigkeit für einen Stadtstaat.“ Dennoch plädiert sie dafür, gerade für Kinder und Jugendliche alles zu unternehmen, was möglich ist und sie vor allem sofort in die Schulen zu holen: „Was man am Anfang versäumt, wenn man sie montelang unbeschult lässt, ist später kaum aufzuholen.“ Junge Menschen brauchten Strukturen und sie verlernten auch leicht, was sie schon aus den Schulen im Heimatland mitbrächten.

Flüchtlingskinder als Helfer

Die Aufnahme in eine Klasse bedeute für sie außerdem „Chancen, eine gute Selbstwahrnehmung, Wertschätzung“. Es sei für sie das Zeichen, „dass sie von der Gesellschaft akzeptiert werden, und das ist enorm wichtig für Kinder“. Karakasoglu verweist auch auf den Nutzen für die ganze Gesellschaft, wenn die Kinder der Flüchtlinge jetzt alle Chancen haben, die sie brauchen: „Wir sollten uns nicht eine weitere Generation möglicher Physiker und Ingenieurinnen leisten, die Taxi fahren müssen.“ Auch für die deutschen Schulen, die ihrer Entvölkerung entgegensähen, seien die vielen neuen Schülerinnen und Schülern eine große Chance. Die Wissenschaftlerin kennt zudem Klassen, die Patenschaften für Neuankömmlinge übernähmen, die Kinder und Jugendlichen würden selbst zu Multiplikatoren. „Das kann ohnehin nicht alles der Lehrkörper stemmen“, findet sie.“ Viele der Kinder seien – schrecklicherweise durch Erlebnisse im Horror von Kriegen und Flucht - vor der Zeit zu reifen Persönlichkeiten geworden, die positiv in Klassen wirkten.

"Thema Flucht in der Schule vernachlässigt"

Der Staat, meint Karakasoglu, müsse jetzt noch einmal deutlich in die Schulen investieren. Es sei gut, dass Ehrenamtler sich anlernen oder nachschulen ließen und über mit Unterstützung der Wohlfahrtsverbände Deutsch lehrten, „aber das ist natürlich keine optimale Lösung und nur in einer Ausnahmesituation in Ordnung“.  Sie sieht die neue Lage auch als Herausforderung an die eigene Zunft derjenigen, die sich mit einer kulturell offenen Schule und Lehrerbildung beschäftigen. „Ich fürchte, wir haben, ich selbst habe das Thema Flucht und Asyl bisher in der Lehrerbildung vernachlässigt. Wir haben uns auf die Gastarbeiter- und die zweite und dritte Generation konzentriert und nicht an die Seiteneinsteiger gedacht.“

Dafür brauche man jetzt dringend Konzepte in der Wissenschaft und in der Lehrerbildungsforschung – und zwar auf Dauer. „Flucht und Asyl werden uns als Thema so schnell nicht verlassen, das ist auch für die Schulen kein Sonderfall mehr, sondern die Regel.“

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