Brexit-Verhandlungen: Warum die irische Grenze so wichtig ist
Was ist der Irland-„Backstop“, welche Lösungen wären noch möglich und was droht bei einem "No Deal"-Austritt? Eine Analyse.
Die Nervosität steigt. Wächst das Risiko eines No-Deal-Brexit am 31. Oktober, obwohl diese Variante schwere ökonomische Schäden für Großbritannien und für die EU bedeuten würde, voran für die Wirtschaftsmacht Deutschland? Und obwohl das britische Parlament mehrfach deutlich gemacht hat, dass es mit großer Mehrheit dagegen ist?
Der neue Premierminister Boris Johnson droht mit No-Deal, falls die EU den Austrittsvertrag nicht nachverhandelt und auf dem so genannten „Backstop“ für den Umgang mit der inneririschen Grenze besteht. Bei seinen Antrittsbesuchen in Berlin am Mittwoch und in Paris am Donnerstag hat Johnson auf die Nachbesserung gedrängt. Zwar lehnten Angela Merkel und Emmanuel Macron dies ab, aber in unterschiedlicher Tonlage.
Das verführt die Medien im Vereinigten Königreich und auf dem Kontinent zu diversen Spekulationen. Sind Nachverhandlungen möglich? Wie könnten Alternativen zum „Backstop“ aussehen? Und: Meint Johnson es ernst mit „No Deal“ oder pokert er mit einer leeren Drohung, weil er keine anderen Druckmöglichkeiten hat?
Ihm müsste doch bewusst sein, argumentieren die Skeptiker, dass er mit den dramatischen Folgen eines No-Deal-Austritts den Sturz seiner Regierung riskiert. Viele Briten können - oder wollen - sich einen ungeregelten Austritt nicht vorstellen.
Was ist der „Backstop“?
Mit dem Austritt der EU verlässt Großbritannien den Binnenmarkt und die Zollunion. Über Nacht müssten Zölle und Grenzkontrollen für Waren eingeführt werden. Das ist ein besonderes Problem an der inneririschen Grenze zwischen dem EU-Mitglied Republik Irland und der zu Großbritannien zählenden Provinz Nordirland. Bisher ist sie eine Binnengrenze innerhalb der EU. Das half den nordirischen Bürgerkrieg zwischen Katholiken, die sich an der Republik orientieren, und Protestanten, die unter englischer Herrschaft sein wollen, zu befrieden.
Mit dem Brexit würde die innerirische Grenze zu einer Außengrenze. Das Karfreitagsabkommen zur Befriedung des Bürgerkriegs verbietet aber eine harte Grenze. Käme es zu einer harten Grenze, befürchten viele ein Wiederaufleben des Bürgerkriegs zwischen Katholiken und Protestanten. Die neue Zollgrenze könnte man auch im Meer zwischen der Provinz Nordirland und dem übrigen Großbritannien ziehen statt auf der irischen Insel. Das lehnt die Regierung in London aber ab, weil Nordirland untrennbar zum Königreich gehört und weil sie ohne die nordirischen Abgeordneten keine Mehrheit mehr hat.
Im Austrittsabkommen, das Johnsons Vorgängerin Teresa May mit der EU ausgehandelt hat, einigte man sich auf den „Backstop“: eine Übergangszeit, in der Großbritannien in der Zollunion bleibt, bis eine praktische Lösung für die innerirische Grenze gefunden ist.
Das bedeutet einen Nachteil für Großbritannien: Es kann keine neuen Handelsverträge abschließen, bis das irische Problem gelöst ist. Und wann und wie das geschieht, wäre nicht allein von London abhängig, sondern von der Zustimmung der EU. Das Austrittsabkommen fand keine Mehrheit im britischen Parlament, vor allem wegen des „Backstops“. Nun fordert Johnson ein Abkommen ohne „Backstop“. Andernfalls trete Großbritannien ohne Deal aus.
Welche Alternativen zum „Backstop“ gibt es?
Der britische Botschafter in Berlin, Sebastian Wood, hat immer wieder auf technische Möglichkeiten verwiesen, wie man aus einer formal harten EU-Außengrenze in der Praxis eine weiche Grenze machen könne, die den Personen- und Warenverkehr in Irland nicht behindert. Mit Kameraüberwachung sei das möglich. Personen würden nur kontrolliert, wenn die Gesichtserkennung Warnzeichen auslöst.
Firmen würden Kennzeichen und Transportlisten ihrer Lkw vorab einreichen, und sie würden als „vertrauenswürdig“ gelten, solange sie nicht bei einer der regelmäßigen Stichprobenkontrollen bei einem Regelbruch erwischt werden. Lkw, die nicht zu „vertrauenswürdigen“ Firmen gehören, werden per Kennzeichenerfassung herausgeholt und kontrolliert. Eine „Smart Border“ mit ähnlichen Vorkehrungen akzeptiert die EU an anderen Außengrenzen, zum Beispiel zwischen Schweden und Norwegen.
Anfangs hatten die britische Regierung und ihre Vertreter eher allgemein auf solche Lösungen hingewiesen und bedauert, dass die EU darüber nicht nachverhandeln wolle, obwohl der „Backstop“ zu einem Haupthindernis für einen geregelten Austritt geworden sei. Mittlerweile hat eine Expertenkommission im Auftrag der Tories einen 272 Seiten langen Bericht mit Alternativen zum „Backstop“, konkreten Regelungen und technischen Lösungen für eine „unsichtbare Grenze“ vorgelegt. Die nötige Zeit für die Einführung des „Trusted Trader“-Programms und des Aufbaus der Infrastruktur wird auf 12 bis 15 Monate geschätzt.
Wie reagieren Merkel und Macron?
Angela Merkel hat Johnson aufgefordert, Alternativen zum „Backstop“ vorzulegen, die das irische Problem lösen. Die Klausel sei in das Austrittsabkommen aufgenommen worden, um binnen zwei Jahren eine praktische Lösung zu finden, die alle Beteiligten akzeptieren können. „Aber man kann sie vielleicht auch in den nächsten 30 Tagen finden.“ Aus Merkels Sicht hieß das: Johnson muss einen Vorschlag machen. Der sorgte wiederum für Lacher, als er sich Merkels Zitat aus der Zeit der Migrationskrise zu eigen machte: „Wir schaffen das.“
In britischen Medien löste Merkels Bemerkung jedoch wilde Spekulationen aus. Die Kanzlerin biete verklausuliert nun doch Nachverhandlungen an, behauptete der „Telegraph“, Johnsons Lieblingszeitung. Laut deutschen Medien hat Merkel hingegen höflich aber bestimmt Nachverhandlungen abgelehnt und deutlich gemacht, dass die EU an der Seite ihres Mitglieds Irland steht.
Weit härter äußerte sich Macron in Paris gegenüber Johnson. Es gebe keine Zeit für Nachverhandlungen. Die EU stehe zum vorliegenden Austrittsabkommen mit dem „Backstop“. Wenn Johnson den „Backstop“ kategorisch ablehne, dann bleibe nur der ungeregelte Brexit am 31. Oktober.
Wie groß ist die Gefahr eines „No Deal“?
Fachleute schätzen die Risiken, dass das Ungewollte eintritt und großen Schaden auslöst, unterschiedlich ein. Markus Kaim, Europa-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und derzeit als neuer Helmut-Schmidt-Stipendiat beim German Marshall Fund in Washington, bezweifelt, dass Johnson mit der Drohung ernst macht.
„No Deal“ bedeute Versorgungsengpässe und Rezession. „Johnson will nicht als Premierminister in die Geschichtsbücher eingehen, der nach wenigen Monaten stürzte und am Brexit scheiterte.“ Ein Risiko bestehe zwar, weil „die Brexiteers sich schon einige irrationale Wenden erlaubt haben“.
Johnson stütze sich aber auf nur eine Stimme Mehrheit im Parlament. Wenn Chaos drohe, würden einige Konservative die Seite wechseln.
Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag hat hingegen „keine Zweifel, dass Boris Johnson zum No Deal entschlossen ist. Für dieses Ziel hat er sein Kabinett zusammengestellt. Er hat seit Regierungsantritt auch nichts anderes kommuniziert als den No-Deal-Austritt.“ Für den Brexit ohne Vertrag gebe es freilich keine Mehrheit im Parlament. Großbritannien stehe vor einem „Machtkampf zwischen Regierung und Parlament“. Von dessen Verlauf und Ausgang hänge ab, ob der „No Deal“ kommt.
Sehr wahrscheinlich werde das Parlament vorher einen Misstrauensantrag stellen und eine Mehrheit dafür gewinnen. Unklar sei, ob es dann auch eine Mehrheit für einen anderen Premier für eine Übergangszeit gebe. „Wenn Johnson den Machtkampf gewinnt, wird es zum No-Deal-Brexit kommen“, sagt Röttgen. Es sei nicht erkennbar, wie die irische Frage vorher gelöst werden kann.
Im Moment des ungeregelten Brexit müssten unzählige Probleme plötzlich bewältigt werden. „Dann sollte die EU pragmatisch reagieren, wenn Johnson als Bittsteller auftreten muss.“
Charles Grant, Direktor des Centre for European Reform in London, hält den "No Deal" für vermeidbar. Er bewertet die Wahrscheinlichkeit des Austritts ohne Vertrag etwa gleich hoch wie die, dass er vermieden wird – „je 40 bis 45 Prozent“. Nachverhandlungen gibt er eine Chance von zehn bis 15 Prozent. Boris Johnson „weiß selbst nicht, was er will.
Er wollte Premierminister werden und verlässt sich auf seine Improvisationskunst.“ Sein Regierungsteam bestehe zum Teil aus Leuten, die „No Deal“ wollen und wissen, dass die EU nicht nachverhandelt, aber ihr die Schuld zuzuschieben möchten. Und zum Teil aus Leuten, die schlecht informiert sind und darauf bauen, dass die EU einknickt.
„Johnson hat Angst vor einem No Deal“, sagt Grant, und „betet, dass sich ein gesichtswahrender Ausweg öffnet“. Er wäre glücklich, wenn das Parlament ihn zwingt, die EU um eine Fristverlängerung zu bitten. Und ebenso, wenn sich die Möglichkeit bietet, vor einem „No Deal“ zu Neuwahlen zu kommen. „Dann kann er sagen: Ich bin auf der Seite der einfachen Leute, die den Brexit wollen, gegen die Elitenvertreter im Parlament.“