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Der Angeklagte Andre E. (l) sitzt im März 2017 im Gerichtssaal in München neben seinem Anwalt Michael Kaiser.
© dpa

Befangenheitsanträge: Warum der NSU-Prozess schon wieder stockt

Es ist das größte Verfahren zu rechtsextremem Terror seit der Wiedervereinigung. Erneut gerät der NSU-Prozess ins Stocken.

Es kam, wie es wohl kommen musste. Die Plädoyers im NSU-Prozess sind unterbrochen, es hagelt Befangenheitsanträge, prompt fallen diese Woche alle Verhandlungstage aus. Wieder einmal stockt am Oberlandesgericht München das größte Verfahren zu rechtsextremem Terror seit der Wiedervereinigung, weil Verteidiger den Strafsenat unter Vorsitz von Manfred Götzl attackieren. Es geht im Kern um die Untersuchungshaft für den Angeklagten André E., die der Senat vergangene Woche beschlossen hat. Der Neonazi und sein Anwalt sind erbost, der angeklagte Ex-NPD-Funktionär Ralf Wohlleben und seine Verteidiger empören sich ebenfalls. So ähnlich  geht das nun schon seit mehr als vier Jahren, das Urteil wird mit hoher Wahrscheinlichkeit erst 2018 verkündet. Vor allem Opferanwälte stöhnen. Sie und ihre Mandanten, die Angehörigen der vom NSU ermordeten zehn Menschen und die Nebenkläger, die Sprengstoffanschläge und Raubüberfälle des NSU überlebten, sind genervt.

„Die neuen Befangenheitsanträge haben keinerlei Aussicht auf Erfolg“, sagt der Berliner Anwalt Sebastian Scharmer. Er vertritt mit Kollegen die Familie des 2006 in Dortmund von den Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos erschossenen Mehmet Kubasik. Scharmer muss angesichts der erneuten Verzögerung Hotelzimmer für Tochter und Ehefrau des Mordopfers umbuchen, „das ist alles ziemlich kompliziert“, gerade jetzt, da Unterkünfte in München wegen des Oktoberfests besonders teuer sind.

Gamze und Elif Kubasik wollen jedoch im Prozess als Nebenklägerinnen dabei sein, wenn es direkt um sie und die anderen Hinterbliebenen und Opfer geht. Eigentlich sollten die Plädoyers der insgesamt 95 Nebenkläger und ihrer 60 Anwälte schon vergangene Woche beginnen. Ob das nun nächste Woche klappt, ist offen. Der Streit zwischen Verteidigern und Strafsenat könnte noch länger schwelen.

Zwölf Jahre Haft für André E. und Ralf Wohlleben gefordert

Worum geht es? Die Bundesanwaltschaft hatte vergangene Woche am Ende ihres Plädoyers je zwölf Jahre Haft für André E. und Ralf Wohlleben gefordert. Beide sollen der mörderischen Terrorzelle, zu der die Ankläger auch Beate Zschäpe zählen, geholfen haben. André E. unter anderem mit gemieteten Wohnmobilen, die Böhnhardt und Mundlos für den ersten Sprengstoffanschlag in Köln und zwei Raubüberfälle auf Bankinstitute in Chemnitz nutzten. Bei dem Anschlag 2001 wurde eine junge Iranerin schwer verletzt, die Bundesanwaltschaft wirft André E. deshalb Beihilfe zu versuchtem Mord vor. Ralf Wohlleben soll maßgeblich an der Beschaffung der Pistole Ceska 83 mitgewirkt haben, mit der Böhnhardt und Mundlos neun Migranten türkischer und griechischer Herkunft erschossen.

Im Unterschied zu Wohlleben, der seit November 2011 in Untersuchungshaft sitzt, war André E. bis vergangene Woche auf freiem Fuß. 2011 und 2012 hatte er nur knapp sieben Monate hinter Gittern verbracht. Die Bundesanwaltschaft sah nun angesichts ihrer Forderung nach zwölf Jahren Haft für E. ein hohes Fluchtrisiko und beantragte erneute Untersuchungshaft für den schwer tätowierten Neonazi. Der Strafsenat erließ dann auch tags darauf einen Haftbefehl. Die Tatsache als solche und die Umstände regten offenbar André E. und auch Ralf Wohlleben sowie ihre Verteidiger so sehr auf, dass sie inzwischen vier Befangenheitsanträge gestellt haben. Zunächst zwei gegen alle Richter des Strafsenats, diese Woche dann noch zwei gegen Götzl allein.

Was drin steht, schildern Justizkreise so: der Verteidiger von André E., der Berliner Anwalt Michael Kaiser, wirft den fünf Richtern im ersten Ablehnungsgesuch vor, sie hätten mit der Begründung des Haftbefehls „unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie bezüglich seiner strafrechtlichen Schuld unverrückbar festgelegt sind“. Im Haftbefehl nennt der Senat „Schwerkriminalität“ und „Fluchtgefahr“ als Haftgründe. Die Richter halten E. der Beihilfe zum versuchten Mord für „dringend verdächtig“ und sehen einen erheblichen „Anreiz, sich dem Verfahren durch Flucht zu entziehen“. Obwohl André E. Frau und drei Kinder hat. Doch „Anhaltspunkte, dass sich der Angeklagte aus der rechten Szene gelöst hat, die ihm Schutz und Unterschlupf bieten kann, sind nicht ersichtlich“, heißt es im Haftbefehl.

Wohllebens Verteidiger geben nicht auf

Den drei Anwälten von Ralf Wohlleben könnte das egal sein. Doch sie ärgert, dass die Richter ihren Mandanten trotz mehrmaliger Beschwerden nicht aus der U-Haft entlassen. Der Strafsenat hält Wohlleben der Beihilfe zu den Morden des NSU an den neun Migranten für dringend verdächtig. Und der Bundesgerichtshof in Karlsruhe hat Götzl und seine Kollegen schon 2015 bestätigt. Dennoch geben Wohllebens Verteidiger nicht auf. In ihrem Befangenheitsantrag von vergangener Woche behaupten sie, der Strafsenat sei „gezwungen“ gewesen, André E. in U-Haft zu nehmen, weil die Richter sonst den Haftbefehl gegen Wohlleben hätten aufheben müssen. Wohllebens Anwälte konstruieren eine Logik, nach der die Richter ihren Mandanten angeblich ebenso „willkürlich“ behandeln wie André E.

Diese Woche nun schoben die Verteidiger der beiden Angeklagten die zwei weiteren, zum Teil auffällig wortgleichen Befangenheitsanträge gegen Götzl nach. Die Anwälte stoßen sich an dessen dienstlicher Erklärung zu den ersten beiden Ablehnungsgesuchen. Der Richter hatte auf fünf Seiten geschildert, wie aus seiner Sicht die Verkündung des Haftbefehls gegen André E. abgelaufen war. Bei dem Termin am 13. September war der Richter mit Anwalt Kaiser aneinandergeraten. Kaiser wollte nicht, dass Götzl den kompletten Haftbefehl verliest, schon wegen der Anwesenheit von Opferanwälten. Götzl verlas, was er für „notwendig“ hielt – das war dann der komplette Haftbefehl. Die Anwälte sprechen nun von einem „völlig unangemessenen und unprofessionellen“ Verhalten des Vorsitzenden Richters. Außerdem soll Götzl in seiner dienstlichen Erklärung die Kontroverse mit Kaiser „verfälschend“ dargestellt haben.

Dass die vier Befangenheitsanträge den  Strafsenat zu Fall bringen, ist unwahrscheinlich. Keiner der mehreren Dutzend Ablehnungsgesuche, die im NSU-Prozess bereits gestellt wurden, kam durch. Warum die Münchener Richter, die über Götzl und seine Kollegen zu befinden haben, nun eine andere Entscheidung treffen könnten, ist nicht zu erkennen. „Ich vermute“, sagt Nebenklageanwalt Scharmer, „die Befangenheitsanträge sind ein Störfeuer, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit davon abzulenken, dass demnächst die Plädoyers der Nebenkläger beginnen“. Und Scharmer prophezeit, in diesen Plädoyers „werden die Angeklagten nicht gut wegkommen“.

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