Hat der Libanon noch eine Zukunft?: Warum der Alptraum noch lange nicht vorbei ist
Die Mega-Explosion von Beirut trifft einen Staat, der schon vorher am Abgrund stand. Die korrupte Elite, sagte ein Experte, ist unfähig, Verantwortung zu übernehmen.
Für die Libanesen wird der Alptraum nach der Explosion in Beirut auch dann nicht vorbei sein, wenn alle Verletzten versorgt und die letzten überlebenden Verschütteten geborgen sind. Denn nicht nur die medizinische Versorgung ist zusammengebrochen, sondern auch die mit Grundnahrungsmitteln. Und die wirtschaftliche Zukunft des Landes, das schon vor der jüngsten Katastrophe am Abgrund stand, scheint düster.
Die Getreidevorräte des Landes reichten für weniger als einen Monat, warnte nun der libanesische Wirtschaftsminister Raoul Nehme. Weil die Explosion auch den zentralen Getreidespeicher im Hafen von Beirut zerstört hat, müssen nun andere Möglichkeiten gesucht werden, Nahrungsmittel ins Land zu bringen.
Das Land am Mittelmeer mit seinen rund sechs Millionen Einwohnern war schon vor der Katastrophe von einer Vielzahl von Krisen heimgesucht worden. Weil der Libanon schon im März eine Staatsanleihe nicht bedienen konnte, verfiel die Währung, de facto befand sich das Land im Staatsbankrott. Wegen der Wirtschaftskrise hungerten viele Menschen, in Massenprotesten entlud sich der Zorn auf die Regierung. Und dann verschärfte auch noch die Corona-Pandemie die Probleme.
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Verschlimmern werden sich nun vor allem die seit langem bestehenden Infrastrukturprobleme des Landes, die schlechte Wasser- und Elektrizitätsversorgung sowie die miserable Müllentsorgung, erwartet Victoria Rietig, Leiterin des Migrationsprogramms der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
Zwar seien von den direkten Folgen der Explosion vor allem die eher wohlhabenden Bewohner der Nachbarviertel des Beiruter Hafens betroffen. Die wahren Leidtragenden aber seien „die Armen, deren wirtschaftliche Situation infolge der wachsenden Wirtschaftskrise noch schlechter werden wird“.
Rund 1,5 Millionen Syrer sind seit Ausbruch des Bürgerkrieges 2011 in den Libanon geflohen – ihre Lage dürfte sich nun noch weiter verschlechtern. „Der Libanon ist das Land, das gemessen an der Einwohnerzahl die meisten Flüchtlinge weltweit aufgenommen hat“, sagt der Geschäftsführer der UNO-Flüchtlingshilfe, Peter Ruhenstroth-Bauer. Die meisten von ihnen lebten in großer Armut. „Die Menschen im Libanon brauchen daher jetzt dringend unsere ganze Solidarität und Unterstützung“, mahnt er.
DGAP-Expertin Rietig erwartet, dass die nun absehbaren Ressourcenkonflikte „die antisyrische Stimmung im Libanon noch mehr anheizen werden“. Auch Ausbeutung und Kinderarbeit würden vermutlich zunehmen. Viele Syrer lebten von finanzieller Unterstützung des Flüchtlingshilfswerks UNHCR und von Einkünften aus informeller Arbeit. Oft arbeiteten sie als weitgehend rechtlose Tagelöhner.
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Keine Anzeichen sieht die DGAP-Expertin dafür, dass die syrischen Flüchtlinge im Libanon nun versuchen werden, nach Europa zu gelangen. Ihnen fehlten die finanziellen Ressourcen. „Nach Europa auswandern können nicht die Ärmsten der Armen, die von der Hand in den Mund leben, sondern diejenigen, die in der Lage sind, Geld für die Reise zu sparen“, meint Rietig. Zudem würden die Flüchtlinge, die in Grenznähe leben, sich bei einer sich zuspitzenden Lage eher dazu gezwungen sehen, in andere Länder der Region weiterzuwandern oder gar nach Syrien zurückzukehren.
Immerhin einen Hoffnungsschimmer für den Libanon gibt es, wenn man Alia Fakhry glaubt, die Mitarbeiterin im DGAP-Migrationsprogramm ist: Keines der Länder aus der Region, die heute direkt und indirekt Einfluss nehmen auf die Politik im Libanon, erhoffe sich Vorteile aus einer weiteren Destabilisierung des Landes.
„Für regionale Mächte, vor allem für den Iran und Saudi-Arabien, und die internationale Gemeinschaft wäre ein Kollaps des Libanon ein großer Verlust“, sagt Fakhry. Einen „failed state“ wollte keiner von ihnen: „Alle haben ein klares, wenn auch unterschiedlich gelagertes, Interesse an der Gesundung des ,kranken Mannes Libanon’.“
Auch Europa muss weiter Hilfe leisten
Damit die Gesundung gelingt, muss auch Europa seine finanzielle Unterstützung fortsetzen, sagt Victoria Rietig. Ende Juni hatten die Geberländer auf einer Unterstützerkonferenz für Syrien allein für das Jahr 2020 mehr als fünf Milliarden Euro zugesagt. Allerdings sei es eine große Herausforderung, sicherzustellen, dass das Geld bei den Bedürftigen ankomme.
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Die DGAP-Expertin schlägt vor, dass eine „gemeinsame Kommission aus zivilgesellschaftlichen Organisationen, internationalen Gebern und Regierungsstellen, die Auszahlung von Hilfen überwachen und Transparenz herstellen“ soll.
Seit Jahrzehnten werde der Libanon „von einer korrupten Elite regiert“, sagt der in Beirut geborene Politikwissenschaftler Marwan Abou-Taam, der an der Humboldt-Universität assoziiert ist. Mit wenigen Ausnahmen seien alle Entscheidungsträger „ehemalige Warlords, die von externen Schutzmächten protegiert werden“.
Das habe den Konfessionalismus gestärkt und oligarchische Strukturen geschaffen, das Land zudem anfällig für regionale Konflikte gemacht. „Der Libanon ist heute manövrierunfähig. Die politische Führung zelebriert ihre Unfähigkeit und scheint auf ein Wunder zu warten“, meint Abou-Taam und fügt hinzu: „Doch der Libanon erfindet sich immer wieder neu.“
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