Grüner Quälgeist: Warum Christian Lindner Boris Palmer nicht in die FDP aufnimmt
Boris Palmer provoziert gern. Nun hat Tübingens grüner OB ein Buch über die deutsche Empörung-Kultur geschrieben, Beifall gibt es von Christian Lindner
Christian Lindner redet wie über einen Parteifreund, man duzt sich. Boris Palmer ist ja für so manchen Grünen in der falschen Partei, nun soll Lindner die Frage beantworten, ob er ihn nicht gerne in seiner FDP hätte: Eigentlich schon. „Aber ich bin eigentlich ganz zufrieden mit dem Wirbel, den in seiner eigenen Partei macht“, so Lindner, der an diesem Abend das neue Buch des Tübinger Oberbürgermeister in den Räumlichkeiten des Tagesspiegel vorstellt, moderiert von Herausgeber Stephan-Andreas Casdorff.
„Erst die Fakten, dann die Moral“, heißt Palmers Buch. Zentrale These: Politik folgt zu oft Stimmungen und nicht der Wirklichkeit. „Es ist Zeit für eine neue Aufklärung“, sagt er. Unbequeme Wahrheiten würden oft ausgeblendet, das Wissen der Kommunen zu wenig genutzt und die Empörungskultur lenke von den wichtigen Problemen ab. Mit Blick auf die aufrüttelnde UN-Rede der Klimaaktivistin Greta Thunberg betont Palmer: „Wir dürfen auf keinen Fall in Panik verfallen."
Da ist er ganz bei Lindner, der Panik in der Politik als Fehlerfalle sieht. Er hatte ja der Fridays for Future-Bewegung geraten, Klimaschutz den Profis zu überlassen. Wer könne denn hier im Saal das Funktionieren einer Brennstoffzelle oder das Elektrolyseverfahren zur Herstellung von synthetischen Kraftstoffen aus Ökostrom erklären, fragt der FDP-Vorsitzende. „Das ist eine Sache für Profis“, meint Lindner.
Den größten Dissens haben die Beiden bei der Fragen eines Mietendeckels, Palmer hält ihn für vertretbar. Ein Hauptgrund für die Immobilienpreise sei die Zinspolitik der EZB, was massiv billiges Geld in den Sektor treibe. „Das kann ich als Oberbürgermeister nicht ändern.“
Neues Bauland sei schwer zu beschaffen, durch Volksentscheide wie gegen eine Bebauung des Tempelhofer Felds oder Naturschutzgebiete rund um Tübingen seien die Möglichkeiten begrenzt, um rasch mehr Wohnraum zu schaffe. Dann könne den Preisauftrieb nur durch regulative Effekte - für Lindner kommt das nicht in Frage - auch wenn er vom Berliner Deckel profitieren und sein Vermieter, Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), ihm die Miete nicht weiter erhöhen darf.
In Palmers Buch geht es viel um Fakten und Falsches zu Luftreinhaltung, Klimaschutz, Wohnungsnot, Wasserschutz, Unsicherheit oder Windrädern. Er sieht eine Tatsachenkrise, zu viel Politik nach dem Prinzip „Pippi Langstrumpf“ („Ich mach' mir die Welt Widdewidde wie sie mir gefällt.“)
Für Palmer ist die in Parlamentsdebatten häufig gebrauchte Redewendung man vertrete die Interessen der „Menschen draußen im Land“ symptomatisch für wachsende Distanz und politische Parallelwelten. Linder meint zu Palmer: „Du bist immer gut für eine abweichende Meinung, um das Mindeste zu sagen“. Scheinbar genieße Palmer es, „den Empörten bei den Empörungsreflexen“ zuzuschauen. Er habe mit seinen Thesen eine „Geländegängigkeit, die man hier oft vermisst“. Ein Hinweis an die Journalisten in Berlin-Mitte von Lindner: „Es gibt auch ein Prenzlau ohne Berg.“
Der FDP-Chef mag, wie Palmer provoziert, stets mit wahrem Kern, in Berlin ist der frühere Bezirksbürgermeister von Neukölln, Heinz Buschkowsky beredtes Beispiel dafür. Palmer warnte frühzeitig wegen der Flüchtlingszahlen: „Wir schaffen es nicht“. Als er die Foto-Auswahl von Zugreisenden beim Internetauftritt der Bahn kritisierte („Welche Gesellschaft soll das abbilden“) wurde er als Rassist beschimpft.
Wenn er den Drogenhandel im Görlitzer Park, die Armut und all die Missstände in Berlin kritisiert ("Vorsicht, Sie verlassen den funktionierenden Teil Deutschlands") ist ihm bundesweite Aufmerksamkeit und Ärger gewiss. Die CDU lud ihn sogar zur Besichtigung von Hot Spots des Nicht-Funktionierens, aber im „Görli“ gab es dann ausnahmsweise wenig davon zu sehen. Auch in anderen Parteien, vor allem der SPD, sind die kommunalen Amtsträger, die nah am Bürger sind, die Unbequemen, die über manche Debatte nur den Kopf schütteln können.
Palmer kann für sich in Anspruch nehmen, dass Tübingen zu den gut funktionierenden Sektoren des Landes gehört. Wer hier mit einem Coffee-to-go-Plastikbecher durch die Stadt läuft, wird mit vernichtenden Blicken und Kommentaren gestraft, in Berlin ist es für nicht wenige hip, den Becher eher unfachgerecht zu entsorgen.
Palmer sieht gerade beim Umwelt- und Klimaschutz eine große Leerstelle bei der FDP. Lindner reklamiert etwas keck für die FDP, Hans-Dietrich Genscher sei doch der erste Umweltminister gewesen, zu einer Zeit „als Joschka Fischer noch mit Steinen auf Polizisten geworfen hat“. Das ist dann doch eine Dehnung der Tatsachen - Genscher richtete als Innenminister nur eine Umweltabteilung ein.
Georg Ismar