„Schlittern in existenzielle Katastrophe“: Warum Carola Rackete plötzlich für den Klimaschutz kämpft
Carola Rackete wurde als Kapitänin und Flüchtlingshelferin auf der Sea Watch bekannt. Nun unterstützt sie die Klimaschutz-Proteste in Berlin. Ein Treffen.
Am Montag betritt die frühere Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete wieder ein Schiff: Dieses Mal ist es eins aus Holz mit dem Namen „Rebella“, es steht an der Siegessäule in Berlin. Mit dem Schiff wollen die Aktivisten der Extinction Rebellion für mehr Klimaschutz demonstrieren. Rackete spricht vom Deck des Schiffs in die aufgebauten Mikrofone.
Die Bundesregierung soll den Klimanotstand ausrufen, ruft sie. Die Menge jubelt. Ihr Einsatz für Seenotrettung steht nicht im Mittelpunkt ihrer Rede. Sie nennt Fakten zum Klimawandel, zitiert Klimawissenschaftler. Für das Thema will sie sich nun stark machen.
Vor wenigen Wochen ist Rackete schon früh am Morgen im Prenzlauer Berg unterwegs, um von ihrem Engagement für den Klimaschutz und die Extinction-Rebellion-Bewegung zu erzählen, der sie nun angehört. Kaum aus der Haustür raus, wird Rackete, eine zierliche Gestalt mit Dreadlock-Zopf und „Niemand ist illegal“-Shirt, gleich erkannt.
„Bist du Carola Rackete? Ich finde dich ziemlich cool“, ruft ihr ein Mann freundlich zu.
Das komme oft vor, erklärt sie auf Nachfrage. „In Italien passiert es sogar ständig.“ Dort seien die Kommentare nicht immer nett, in Deutschland in der Regel schon. Ganz geheuer ist der 31-Jährigen der Rummel um ihre Person nicht. Man merkt es daran, wie verlegen sie wird, wenn sie darüber spricht.
Warum Carola Rackete sich jetzt für Klimaschutz engagiert
Seit Rackete in einer Nacht Ende Juni mit der Sea Watch 3 und Dutzenden Geflüchteten an Bord in den Hafen von Lampedusa einlief, trotz Verbots der italienischen Behörden, und sich so den damaligen Innenminister Matteo Salvini zum größten Feind machte, ist sie eine internationale Berühmtheit.
Doch nun, mit Pappbechern Kaffee vom Bäcker in den Händen vor einem noch geschlossenen Café sitzend, soll es nicht um Seenotrettung oder Salvini gehen, sondern um Klimaschutz, für den sich Rackete engagiert.
In gewisser Weise ist sie durch die Schifffahrt auf das Thema gestoßen. In Hambühren bei Celle aufgewachsen, absolvierte Rackete die Nautikschule in Elsfleth. 2011 fuhr sie mit dem Forschungsschiff „Meteor“ durchs Eismeer, später erkundete sie mit der „Polarstern“ die Pole. Viel mehr Eis sei vor 20 Jahren da gewesen, hätten die Wissenschaftler ihr immer wieder erzählt.
Rackete: „Schau, niemand gerät in Panik“
Das war zunächst nur eine Information, die sie hinnahm. „Ich habe damals der Politik vertraut. Ich dachte, die Staaten unternehmen bestimmt etwas, weil doch alle wissenschaftlichen Erkenntnisse längst auf dem Tisch liegen.“ Doch passiert ist bekanntlich viel zu wenig. „Wir haben 60 Prozent mehr Emissionen als noch vor 30 Jahren.“ Die Menschen müssten eigentlich in Panik geraten, sagt Rackete in Anlehnung an die Worte Greta Thunbergs. Racketes Blick schweift die Kastanienallee entlang: „Schau, niemand gerät in Panik. Alle sind entspannt auf dem Weg zur Arbeit.“
Rackete, die seit vielen Jahren Vegetarierin ist und neuerdings versucht, fliegen zu vermeiden, wenn es geht, hat sich der Extinction-Rebellion-Bewegung angeschlossen. Die Organisation ist vor allem in Großbritannien bekannt, wird aber auch in Deutschland immer wichtiger. Während „Ende Gelände“ Kohlebagger besetzt, blockiert Extinction Rebellion Konzernzentralen und Regierungsgebäude – immer friedlich.
Eine Idee der Organisation, die Rackete besonders imponiert, sind „Bürgerversammlungen“: Menschen sollen repräsentativ aus der Gesellschaft ausgewählt werden, um beispielsweise über Klimaschutz-Lösungen zu sprechen. Beraten werden sie dabei von Experten.
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Doch da würden auch Klimawandelleugner unter den ausgewählten Bürgern sein. Die AfD stellt die stärkste Oppositionsfraktion im Bundestag. Das schreckt sie nicht ab. „Wenn man den Leuten die Fakten über den Klimawandel darlegt, dann werden sie verstehen und dann werden sie auch zu verantwortungsvollen Entscheidungen fähig sein“, sagt Rackete.
Der Klimawandel verschärfe schon heute bestehende Konflikte um Land, Wasser und Nahrungsmittel. In einigen Regionen Indiens war es zeitweise mehr als 50 Grad heiß, anderswo drohen Küstengebiete wegen des steigenden Meeresspiegels unbewohnbar zu werden.
„Es gibt doch schon heute ein Chaos um die Aufnahme von Geflüchteten. Mit dem Klimawandel werden es viel mehr Menschen werden“, sagt Rackete. 300 Millionen Klimaflüchtlinge könne es laut Greenpeace bis 2040 geben. „Mit diesem Wissen müssten die Regierungen Europas doch ein elementares Interesse an Klimaschutz haben“, sagt sie.
Die Industriestaaten hätten zudem eine besondere Verantwortung beim Klimaschutz. „Jahrzehntelang haben wir gewaltige Mengen CO2 emittiert, um unseren Wohlstand aufzubauen.“ Deutschland könne sich nicht mit dem Hinweis auf schnell wachsende Schwellenländer wie Indien oder China aus der Affäre ziehen.
Rackete fordert ein Leben innerhalb der planetaren Grenzen
Die Bundesregierung diskutiert darüber, wie der Ausstoß von CO2 teurer werden kann, wie mehr E-Fahrzeuge auf die Straße kommen und über den Austausch alter Ölheizungen für mehr Klimaschutz in Häusern.
Alles nur klein-klein? „Das hätte die Politik vor 30 Jahren umsetzen können und müssen. Jetzt ist es für solche Maßnahmen viel zu spät“, sagt Rackete. Sie fordert radikalere Schritte. „Das wäre angemessen, denn wir schlittern mitten rein in eine existenzielle Katastrophe.“
Wo beginnen, wenn man Wirtschaft und Gesellschaft umkrempeln will? „Damit, nicht das Bruttosozialprodukt zum wichtigsten Maßstab dafür zu machen, wie gut es einem Land geht. Andere Faktoren müssen gemessen werden: Gesundheit, Bildung.“
Die Lösung könne nicht allein der Umstieg aufs E-Auto sein, nicht der Verzicht aufs Fliegen, nicht der Strom aus erneuerbaren Energien, es gehe um viel Grundlegenderes. Sie verweist auf das Buch „Doughnut Economics“, in dem die Autorin Kate Raworth beschreibt, wie der Mensch innerhalb sieben planetarer Grenzen leben kann.
Während Rackete das erklärt, fahren zahlreiche Autos und Lieferwagen die Kastanienallee entlang, es dröhnt. Sie muss lauter sprechen. Und so ringt akustisch Vision mit Realität: Selbst das ökologisch orientierte Prenzlauer Berg hängt eben am Verbrennungsmotor, das fossile Zeitalter ist lange nicht überwunden.
Da scheinen Racketes Ideen schwer umsetzbar in kurzer Zeit.
Und überhaupt, wenn sich die Politik schon über CO2-Steuer und Emissionshandel in die Haare bekommt, wie soll die ganz große Umwälzung gelingen? „Wir haben dieses System erschaffen. Wir können es auch wieder abschaffen und etwas Neues entwickeln“, sagt die Kapitänin zum Abschied.