Jerewan will Braindrain stoppen: Warum Armeniens neue Regierung die Diaspora zurückbringen will
Nach der Revolution 2018 möchte Premier Paschinjan sein Land in eine demokratische Zukunft führen – und Landsleute zurückholen. Kann das gelingen?
Als die Revolution beginnt, trennen Aramajis Madatjan 7000 Kilometer von seiner Heimat Armenien. Übers Internet verfolgt er, wie seine Landsleute in Jerewan auf die Straße gehen. Er selbst arbeitet im Frühjahr 2018 als Englischlehrer im ostchinesischen Xiamen. Drei Jahre zuvor hatte er seiner Heimat den Rücken gekehrt.
„Die Wirtschaftslage war nicht gut“, sagt er rückblickend. „Hoffnung auf eine bessere Zukunft gab es nicht.“ Wenige Arbeitsplätze und viel Korruption. Also verließ er das Land, wie Tausende pro Jahr – die zeitweise als Gastarbeiter oder dauerhaft ins Ausland gehen. Dass Madatjan, ein 30-Jähriger mit kurzen dunklen Haaren, jetzt in einer Cafeteria der Universität in Jerewan sitzt und seine Geschichte erzählt, das war vor Monaten nicht absehbar.
Bis vor Kurzem war Armenien bekannt dafür, dass mehr und mehr Menschen auswanderten, weil sie in ihrer Heimat keine Zukunft sahen.
Drei Millionen Menschen leben in der Kaukasusrepublik, sieben Millionen in der Diaspora. Für das kleine Land ist das ein riesiges Problem. Die neue Regierung in Jerewan will Armenier im Land halten und aus der Ferne zurücklocken – zugunsten der Wirtschaftskraft und um demografischen Problemen entgegenzutreten. Die Regierung spricht von ersten Erfolgen, doch die Zahlen haben einen Haken.
Madatjan hatte Armenien im September 2014 den Rücken gekehrt. Ein Studienstipendium führte ihn zunächst nach Tallinn. Auf den Abschluss folgte ein Angebot, als Englischlehrer nach China zu gehen. Madatjan zögerte nicht. In China sei es für ihn leichter gewesen, einen gut bezahlten Job zu finden als in Europa. „Ich dachte, das muss ich versuchen.“
In der Sprachschule stieg Madatjan rasch auf, vom einfachen Dozent zum Vorgesetzten von 15 Lehrern. Er gründete sein eigenes kleines Unternehmen, verdiente bis zu 5000 Dollar im Monat – gut 15 Mal mehr als der Durchschnittslohn in Armenien. Dann kam die Revolution.
Vorgezogene Neuwahlen vor einem Jahr
Im April 2018 protestieren Hunderttausende in Jerewan gegen Sersch Sargsjan. Nach zwei Amtszeiten als Präsident hätte der Autokrat die Macht verfassungsgemäß abgeben müssen, also überträgt er wichtige Befugnisse auf die Regierung und greift nach dem Amt des Premierministers. Doch der friedliche Protest vereitelt den Plan. Sargsjan gibt dem Druck der Straße nach und tritt zurück. Die Regierungsgeschäfte übernimmt Nikol Paschinjan, der Anführer der Massenproteste. Bei vorgezogenen Neuwahlen vor einem Jahr, sprechen knapp 70 Prozent der Wähler ihm das Vertrauen aus.
Als Madatjan die Proteste sieht, überkommt ihn Heimweh und er steigt ins Flugzeug, um ein Teil der Revolution zu werden. Heute lebt er wieder in Jerewan, unterrichtet Chinesisch, führt chinesische Touristen durch seine Heimat und plant eine eigene, private Sprachschule zu eröffnen. Es ist Madatjans Beitrag zum neuen Armenien.
Premier Paschinjan hat den Armeniern versprochen, Demokratie zu schaffen, die Wirtschaft anzukurbeln und Korruption zu bekämpfen. „Armenien erfindet sich neu“, sagt Mikajel Soljan, 39, Abgeordneter des regierenden „Mein Schritt“-Bündnisses.
„Es ist ein historischer Moment für das Land“, sagt der Abgeordnete. „Wir sind verantwortlich für das Schicksal der Revolution.“ Denn vollendet sei diese keineswegs. Exekutive und Legislative seien zwar von der Korruption befreit worden, sagt er. Wer heute bei Vetternwirtschaft erwischt wird, muss harte Strafen fürchten. Das Rechtssystem sei jedoch noch immer durchsetzt von alten Kadern. „Die Richter“, sagt Soljan, „sind korrupt, die Leute trauen den Gerichten nicht.“ Es werde wohl „Jahre dauern, um die Korruption komplett loszuwerden“.
Armenien orientiert sich an Europa
Nichtsdestotrotz: „Armenien bewegt sich in Richtung Demokratie“, sagt Armen Wardanjan, der für den Thinktank „Armenian Institute of International and Security Affairs“ arbeitet. „Seit der Samtenen Revolution wurden viele Fortschritte erreicht.“ Allerdings gebe es auch einen enttäuschten Teil der Bevölkerung. Denn manche hätten sich „radikalere Reformen gewünscht“.
Zu den großen Herausforderungen zählt auch die Außenpolitik. Das Verhältnis zu zwei direkten Nachbarn ist äußerst schwierig: Mit der Türkei unterhält Armenien keine diplomatischen Beziehungen aufgrund des Völkermordes, gleiches gilt für Aserbaidschan wegen ungeklärter Gebietsansprüche um die Provinz Nagorny-Karabach.
Die Grenzen zu den Nachbarn sind geschlossen. 2015 trat Armenien der von Moskau dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion bei. Premier Paschinjan möchte sich stärker an den Werten Europas orientieren, will den Lebensstandard näher an europäisches Niveau heranführen. „Wir versuchen, das Beste aus beiden Welten zu vereinen“, erläutert der Abgeordnete Soljan. Russland sei wichtig für die Sicherheit des Landes. „Gleichzeitig haben wir dieselben Werte wie Europa: Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Demokratie“. Die Regierung hofft auf die EU, bei der Modernisierung des Landes.
Oligarchen und Monopole entmachtet
Nach dem politischen Umsturz soll außerdem der große Umbau der Wirtschaft folgen. Oligarchen und Monopole sind im vergangenen Jahr entmachtet worden, nun soll der Tourismus ausgebaut werden, Landwirtschaft und IT-Sektor wachsen. Die Gründung kleiner Unternehmen soll erleichtert werden, damit mehr Bürger aus der verbreiteten Schwarzarbeit in legale Beschäftigungen wechseln. Vor allem die Entwicklung kleinerer Betriebe soll die Attraktivität für Rückkehrer aus der Diaspora steigern und damit beitragen, den Braindrain zu stoppen. „In den vergangenen Jahren haben viele Armenien verlassen“, bedauert Politiker Soljan. „Wir wollen, dass sie in ihre Heimat zurückkehren.“
Vor allem zwei Ereignisse sind verantwortlich für die starke Emigration. Zum einen der Völkermord der Türkei an den Armeniern 1915. Zum anderen führte ab den späten 80er Jahren ein schweres Erdbeben, der Krieg um die Region Nagorny-Karabach und der Zusammenbruch der Sowjetunion zu einer schweren Wirtschaftskrise. Viele Menschen zog es nach Russland, Frankreich, in die USA, nach Südamerika. In Deutschland leben schätzungsweise bis zu 60.000 Armenier.
Heute betont die Regierung, dass 2018 erstmals die Zuwanderung höher gewesen sei als die Abwanderung. Die Statistikbehörde gibt das Plus mit 15.313 an. Gezählt wurden hier aber die Grenzübertritte insgesamt, also alle Ein- und Ausreisenden jeder Nationalität; Einwanderer, Touristen, Geschäftsreisende sowie im Ausland abgelehnte Asylbewerber.
Armenien verzeichnet weniger Ausreisen
Es gibt auch eine Statistik der Grenzübertritte von Personen mit armenischem Pass. In den ersten neun Monaten 2019 lag darin die Zahl der Ausreisenden an der Grenze bei 1,7 Millionen und mit 35.549 höher als die der Einreisenden. Immerhin hat sich die Zahl der Ausreisen im Vergleich zum Jahr 2017 mehr als halbiert. Aber: An - und Abmeldungen werden nicht erfasst. Wie viele Menschen das Land dauerhaft verlassen oder zurückkehren, lässt sich an der offiziellen Statistik nicht ablesen.
Entsprechend zurückhaltend reagiert man deshalb auf die Zahlen bei Repat Armenia. Die Organisation wirbt seit Jahren im Ausland um Rückkehrwillige. Mitarbeiter wie Programmmanagerin Rima Jeghiasajan bieten Beratung und Hilfestellung, von der Unternehmensgründung bis zum Versicherungsabschluss. Im vergangenen Jahr suchten etwa 800 Personen Hilfe, berichtet Jeghiasajan.
Sie sagt auch: Wenn mehr Leute zurückkehren sollen, müsse man ihnen mehr Angebote machen. Zwar sei es ein zentrales Anliegen, „eine Vision der neuen Regierung“, mehr Menschen aus der Diaspora zurückzubringen, sagt Jeghiasarjan. „Aber die Regierung hat noch keine konkrete Politik.“ Sie hofft, dass sich dies bald ändert.
Auch andere Experten sind skeptisch. „Jeder, der eine Chance hat zu gehen, wird sie nutzen“, meint Grigor Jeritsjan, Direktor der Jugendorganisation Armenian Progressive Youth. Dabei gehe es nicht nur um wirtschaftliche Fragen, sondern auch um Diskriminierung und Menschenrechte im Land.
Wer einmal weg sei, so Jeritsjan, habe wenige Anreize, zurückzukehren. „Unser Land verliert viel.“
Vergangenheit sei die Zahl der Auswanderer insbesondere nach Wahlen angestiegen – aus Enttäuschung, sagt Aleksandr Grigorjan, Wirtschaftsprofessor an der American University in Jerewan.
Nach der Samtenen Revolution seien die Erwartungen nun deutlich höher im Vergleich zur Vergangenheit – und damit noch leichter zu enttäuschen, was zu mehr Emigration führen könne, wenn der erhoffte Wandel nicht schnell genug eintrete, fürchtet er. „Die Leute haben dann das Gefühl, dass sie betrogen wurden.“
Hoffnung auf besseren Lohn
Eine mögliche Anlaufstelle für all jene, die Armenien verlassen wollen, ist das Sprachlernzentrum in Jerewans Innenstadt, der offizielle Partner des Goethe-Instituts in Armenien. Hierhin kommen jede, die in Deutschland studieren wollen oder, die einen Job suchen.
Einer davon ist Tigran. Nach der Arbeit besucht der 43-jährige Chirurg Kurse, weil er nach Deutschland will. Es gehe ihm in erster Linie um „berufliche Fortschritte“, wie er erklärt, aber spiele auch die Aussicht auf einen höheren Lohn eine Rolle.
Freunde haben ihn gefragt, wie er gerade jetzt, nach der Revolution, das Land verlassen kann? „Ich habe nur ein Leben“, erwiderte Tigran.
„Armenien ist auf dem Weg zur Demokratie“, das gefalle ihm natürlich. Aber wie lange Tigran in Deutschland bleiben will, das kann er noch nicht sagen.
Die Reise fand auf Einladung des Vereins „Deutsche Gesellschaft“ statt.
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