Die SPD und die Zukunft von Hartz IV: Warnung vor einer Radikalkur
Mit ihren forschen Attacken auf Hartz IV verschreckt SPD-Chefin Andrea Nahles Teile der eigenen Partei. Noch ist unklar, wo sie hinwill.
Andrea Nahles durfte sich ermutigt fühlen. Als die SPD-Chefin vor mehr als zehn Tagen auf dem „Debattencamp“ der SPD in Berlin den Abschied von Hartz IV ankündigte, tobte der Saal. Auch bei einer Podiumsdiskussion über Hartz IV am zweiten Tag des Parteitreffens machten rund 200 überwiegend sozialdemokratische Zuhörer klar, was sie umtreibt. Für Verteidiger des sozial- und arbeitsmarktpolitischen Systems wie den Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlev Scheele, oder Ex-Caritas-Chef Georg Cremer rührte sich kaum eine Hand im Saal. Forderungen nach einer Totalreform von Hartz IV aber wurden laut und lang beklatscht.
Doch Nahles war wohl klar, dass sie nicht nur Genossen begeistern, sondern auch etliche verschrecken würde. Ihre Botschaft nämlich empfinden viele als Ankündigung einer Radikalabkehr von dem in der Partei verpönten System, das SPD-Kanzler Gerhard Schröder vor 15 Jahren auf den Weg gebracht hatte. Bedenken, wonach der Ruf nach einem völlig neuen Sozialstaat konkrete Erfolge der Regierung überdecke, wischte Nahles in „Spiegel Online“ beiseite: „Unsere Ideen für die Zukunft und die aktuelle Regierungsarbeit greifen ineinander.“
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil und Ex-Parteichef Sigmar Gabriel warnten sie diese Woche vor einer Radikalkur.„Wesentliche Teile von Hartz IV haben sich bewährt und werden auch nicht wirklich infrage gestellt - die Abschaffung der Sozialhilfe etwa und der Umbau der Arbeitsverwaltung“, sagte Weil der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung.
Zugleich verwies er auf Schröders Diktum, wonach die "Agenda 2010" nicht die Zehn Gebote seien. Einige Elemente müssten aber nach anderthalb Jahrzehnten tatsächlich neu bewertet werden. So könne man etwa das System bürgerfreundlicher machen, Kinderarmut besser bekämpften oder Arbeitslose besser stellen, die jahrzehntelang Beiträge bezahlt haben. Das Lohnabstandsgebot will Weil erhalten: „Wer arbeitet, muss besser gestellt werden als diejenigen, die das nicht tun.“
Ex-Parteichef Gabriel riet dringend von einer zu starken Fixierung auf ein Thema ab. „Die SPD muss aufpassen, dass sie keine Hartz-IV-Partei wird. Die gibt es schon: Das ist die Linkspartei“, sagte er dem „Reutlinger General-Anzeiger“. Facharbeiter würden es nicht als gerecht empfinden, wenn ein Hilfeempfänger nicht mit Sanktionen rechnen müsse, wenn er Arbeit ablehne. Nahles hatte Sanktionen zur Disposition gestellt. Die Vorsitzende hat versprochen, die ganze Partei an der inhaltlichen Erneuerung der SPD zu beteiligen, weshalb sie zu Hartz IV selbst nur Stichworte gibt, aber kein fertiges Konzept vorlegen darf.
Nur Parlamentarische Linke fordert schon lange eine Reform
Von den drei Parteiflügeln hat sich bislang nur einer klar geäußert: Die Parlamentarische Linke (PL) hatte lange vor der Parteichefin eine weit reichende Reform von Hartz IV gefordert - und applaudiert ihr, seitdem diese viele ihrer Positionen übernommen hat. Als Arbeitsministerin hatte Nahles die Agenda 2010 noch gemeinsam mit Gabriel gelobt.
Der konservative „Seeheimer Kreis“ sieht sich in Weils Warnung gut aufgehoben, hat aber noch keinen eigenen Beschluss zum Umbau gefasst. Die pragmatischen „Netzwerker“, einst treue Stützen von Gerhard Schröders Sozialreformen, wollen von der Partei- und Fraktionschefin erst einmal erklärt bekommen, in welchen Gremien sie die Entscheidung über die Zukunft von Hartz IV fällen will. Im Bundeskabinett gelten Familienministerin Franziska Giffey und Arbeitsminister Hubertus Heil als Kräfte, die Nahles von einer Radikalkur abhalten wollen.
Auf dem „Debattencamp“ vor zehn Tagen warnte ein langjähriger Genosse seine Partei, es sei „unendlich gefährlich“, die ganze Debatte über Erneuerung an Hartz IV fest zu machen. Die SPD werde dabei nämlich „nicht das Ergebnis erzielen, das sich viele erhoffen“.