Afghanistan und die Nato: Vorwärts in die Vergangenheit
Ukraine, Irak, Syrien – der Westen hat derzeit viele Sorgen. Afghanistan ist nicht mehr im Fokus. Doch vor dem Nato-Abzug Ende 2014 kommen die Taliban zurück.
Auf der Londoner Afghanistan-Konferenz 2010 beschlossen rund 60 Länder zusammen mit der afghanischen Regierung die „Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Streit- und Polizeikräfte“. Damit bis Ende des Jahres 2014 der Abzug der internationalen Truppen vom Hindukusch Wirklichkeit werden kann. Das klingt gut. Das hört sich an nach etwas, das sich planen, vorbereiten und geordnet durchführen lässt. Mehr nach einem technokratischen Verwaltungsakt jedenfalls, der eine penible Logistik erfordert, als nach einer Flucht aus der Verantwortung, einer Fortsetzung des Krieges unter anderen Vorzeichen, einer Rückkehr zum Zustand vor 2001. Doch genau das ist es, was derzeit in Afghanistan passiert.
In nicht einmal vier Monaten endet der Nato-Kampfeinsatz – und die Taliban sind längst schon wieder auf dem Vormarsch. In 32 der 34 Provinzen toben Gefechte, die Sicherheitskräfte erleiden schwere Verluste. Bis zu 100 Soldaten sterben – jede Woche. In Deutschland allerdings werden darüber offiziell keine Statistiken mehr geführt.
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Die Welt hat andere Sorgen. Ukraine, Irak, Syrien, Israel. Der Konflikt in Afghanistan ist in den Hintergrund gerückt. Dabei weiten Aufständische ihren Einfluss in atemberaubendem Tempo und Umfang wieder aus und bringen die heimischen Sicherheitskräfte in arge Bedrängnis. Ob es einen Nato-Nachfolgeeinsatz geben wird, der ihnen beisteht, oder ob die ausländischen Truppen ganz abziehen werden, steht wegen des Wahlchaos immer noch in den Sternen.
Fünf Monate nach der ersten Wahlrunde ist weiterhin unklar, wer Hamid Karsai als Präsident nachfolgen wird. Die Gespräche über eine Machtteilung zwischen den beiden Kandidaten, Aschraf Ghani und Abdullah Abdullah, sind gescheitert. Ein Kompromissvorschlag von US-Außenminister John Kerry sah vor, dass Wahlsieger Ghani seinen Rivalen als leitendes Regierungsmitglied in die Führung des Landes aufnimmt. Allerdings konnten sich, wie am Montag bekannt wurde, die beiden Politiker nicht auf die Kompetenzen dieses Amtes einigen. „Der politische Prozess steckt in einer Sackgasse. Wir sehen keinen Ausweg“, sagte der designierte Vizepräsident Mohammad Mohakek.
Damit kann die Nato auf ihrem Gipfel an diesem Donnerstag und Freitag in Wales nicht die geplante Mission „Resolute Support“ (Entschlossene Unterstützung) zur Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte ab 2015 beschließen. Die Zeit, um diesen Einsatz vor Jahresende noch auf die Beine zu stellen, läuft aus. Gute Nachrichten sind das für die Taliban – die die Verunsicherung im Land nutzen, um ihren Kampf zu verstärken.
In der vergangenen Woche kursierten Bilder in sozialen Medien, die die weiße Taliban-Flagge mutmaßlich auf einer früheren Befestigungsanlage der Bundeswehr in der nordafghanischen Provinz Kundus zeigen. Kundus ist ein besonderer Ort für die deutschen Soldaten. Zehn Jahre lang war Kundus der zweitgrößte Stützpunkt der deutschen Streitkräfte am Hindukusch. Seit 2008/2009 waren deutsche Soldaten hier erstmals in ihrer Geschichte mit einem andauernden und opferreichen Guerillakrieg konfrontiert. Und jetzt? Jetzt besetzen Aufständische Vororte von Kundus. Liefern sich im Distrikt Chahar Darreh erbitterte Gefechte mit afghanischen Sicherheitskräften und bewaffneten Einwohnern. Am 13. August gelang den Aufständischen sogar die Einnahme der Polizeistation von Chahar Darreh, wo früher jene deutschen Soldaten stationiert waren, außerhalb des sicheren Camps, die für Kampfeinsätze vorgesehen waren.
In der Not werden trotz eines Verbots die Amerikaner um Hilfe gerufen
Ein hochrangiger Mitarbeiter des Innenministeriums, der anonym bleiben will, sagt, in der Provinz seien inzwischen 2000 Taliban-Kämpfer unter dem notorischen Kommandeur Mullah Salam aktiv, der bis kurzem noch in pakistanischer Haft war. Die FAZ zitierte jüngst aus einem bisher nicht veröffentlichten Bericht des „Afghanistan Analysts Network“: „Das letzte Mal, dass die Taliban so nahe daran waren, die Provinzhauptstadt zu übernehmen, war 1997“. Damals eroberten sie die „strategisch wichtige Provinz, die fortan das Machtzentrum des Islamisten-Regimes im Norden wurde – bis zu ihrem Sturz 2001. Auch wegen dieser Vorgeschichte sind die Kämpfe von Kundus von symbolischer Bedeutung.“
Es ist den Taliban beinahe gelungen, zwei der sieben Distrikte in der Provinz zu überrennen. In der Not habe Innenminister Umer Daudsai den Kommandeur der Nato-Schutztruppe Isaf um Luftunterstützung gebeten – was Präsident Karsai eigentlich untersagt hat. „Der Minister sagte dem (amerikanischen Isaf-)General, wenn wir keine Luftunterstützung erhalten, werden wir diese Distrikte verlieren.“
Und längst nicht nur in Kundus ist die Lage angespannt. Die schweren Gefechte begannen im Juni, als die Taliban den Distrikt Sangin in der südafghanischen Provinz Helmand überrannten. Bis heute dauern die Kämpfe um Sangin an, mehr als 1000 Menschen wurden dort bislang nach Angaben der Provinzregierung getötet. In der Provinz Logar südlich von Kabul griffen erst vor wenigen Tagen Hunderte Taliban-Kämpfer Regierungsziele an. Die Aufständischen hätten sogar mobile Kliniken für ihre verletzten Kämpfer errichtet, sagen Stammesälteste.
Die Nato wiegelt ab und verweist darauf, dass die Taliban dauerhaft keine Provinz und keinen Distrikt kontrollierten. Der deutsche Nato-General Hans-Lothar Domröse sagte vor wenigen Tagen: „Die Situation hier wird als ziemlich stabil eingeschätzt.“ Allerdings stellten die Taliban immer noch eine Gefahr dar. „Der Taliban-Aufstand ist nicht stärker geworden, er ist aber auch nicht vorüber.“ Das Lagebild aus dem Kabuler Innenministerium klingt bedrohlicher. „Bis auf die Provinzen Pandschir und Bamian gibt es derzeit in allen 34 Provinzen Gefechte“, heißt es dort. Ein hochrangiger Mitarbeiter des afghanischen Verteidigungsministeriums, der anonym bleiben will, sagt aber, jede Woche würden bis zu 100 Soldaten im Gefecht getötet. „Wenn das anhält, wird es auf lange Sicht schwierig aufrechtzuerhalten sein.“ Der Afghanistan-Experte der International Crisis Group, Graeme Smith, macht einen Strategiewechsel bei den Taliban aus – weg von der Guerilla-Taktik mit versteckten Sprengfallen, hin zum offenen Gefecht. Von dieser Taktik hatten sich die Taliban wegen hoher Verluste im direkten Kampf gegen die Isaf 2006 eigentlich abgewandt. Der erneute Wandel deutet für Smith auch auf mehr Selbstbewusstsein bei den Aufständischen hin: „Weil man kein Feuergefecht beginnt, wenn man nicht darauf hofft, dieses Gefecht zu gewinnen.“ (mit dpa)
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