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Syrische Familie auf der Flucht: Vor den Trümmern ihres Lebens

Sie haben es nicht mehr ausgehalten. Und sind dem Inferno von Homs knapp entkommen. Vor sechs Wochen ist die 70-köpfige Großfamilie Hadad nach Kairo geflohen. Und sieht jetzt verzweifelt zu, wie in Syrien die Gewalt weiter eskaliert.

Ahmed ist neun. Er hockt auf den blanken Fliesen und malt, zieht eine blaue Linie nach der anderen. Daneben ein Panzer, hinter dem fertigen Gitter zwei Menschen – Vater und Bruder. Vor zwei Monaten wurden beide in Homs verhaftet, Ahmeds ältester Bruder war gerade 16 geworden. Mit ihnen sind 5000 Menschen eingesperrt in dem Gefängnis von Homs. Und Ahmed weiß aus dem Fernsehen, dass Häftlinge am Wochenende versucht haben, sich nach der Flucht einiger Wärter selbst zu befreien. Seitdem ist das ganze Areal von Panzern umstellt, die wahllos auf das Gebäude feuern, in dessen Inneren manchmal 60 Assad-Gegner stehend in kleinen Zellen zusammengepfercht sind.

Auch Aischas Vater sitzt hinter Gittern – in Damaskus. Die Zwölfjährige trägt ein Kopftuch, sie ist mit ihren Großeltern nach Kairo geflohen. „Weil ich keinen zum Reden hatte, habe ich alles aufgeschrieben“, sagt sie. „Danach ging es mir besser.“ Dem kleinen Ringheft hat sie die Chronologie ihrer zerstörten Kindheit anvertraut. „Ich habe eine so schöne Zeit in meinem eigenen Zimmer gehabt, jetzt ist alles kaputt“, steht dort und: „Egal, wo man hinkommt, es riecht nach Tod.“ Alle Kinder sind seit anderthalb Jahren nicht mehr zur Schule gegangen, stattdessen haben sich ihre Seelen mit Bildern des Horrors gefüllt. Einer der Jungen malt sich selbst auf einem Boot, allein und weit weg von allem, umgeben von ein paar Fischen.

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Die Erwachsenen dagegen hängen meist stumm ihren Gedanken nach und sitzen stundenlang im Halbkreis um den Bildschirm. Immerzu läuft der Fernseher, die einzige Verbindung zu ihrer Heimat. Damaskus, jetzt auch Aleppo und immer wieder Homs, aus dem sie alle kommen. Überall wird geschossen, gestorben und gekämpft. Ihr Leben liegt in Trümmern und das hunderttausender Landsleute auch.

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Seit fünf Tagen aber, seit dem großen Anschlag auf Assads Regimespitze, hat sich der Tenor der Videobilder geändert. Zuvor waren immer die gleichen Sequenzen zu sehen – in weiße Tücher gehüllte Leichen, Feuerbälle über den Dächern, wütende Demonstranten mit Transparenten und Panzerungetüme, die, von zitternden Handykameras verfolgt, drohend durch die Wohnstraßen walzten.

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Jetzt jagen Rebellen in eroberten Panzern durchs Bild, fahren lange Kolonnen von Bewaffneten auf Pickups siegessicher in die Schlacht. Jeden Tag liefern sich die Aufständischen heftigere Gefechte mit der Armee, während ein General nach dem anderen über die Grenze in die Türkei desertiert. Mit voller Wucht hat die Gewalt jetzt auch Damaskus und Aleppo erreicht, die beiden Metropolen Syriens, wo die Hälfte aller Einwohner des Landes lebt.

Vor sechs Wochen war das alles auch noch Alltag von Familie Hadad aus Homs, die aus Angst um die Verwandtschaft daheim ihre richtigen Namen nicht in der Zeitung sehen will. Seit Jordanien die Last der vielen Neuankömmlinge nicht mehr tragen kann, fahren immer mehr syrische Flüchtlinge weiter nach Ägypten, so im Juni auch die 70-köpfige Großfamilie, die im Kairoer Stadtteil Zakkariyya in zwei Mietwohnungen untergekommen ist. Ständig kommen weitere Angehörige nach, zuletzt die beiden halbwüchsigen Brüder Omar und Samir, deren Vater festgenommen wurde und von dem seither jede Spur fehlt. Am Kopf ihrer Matratzen haben sie sein Foto aufgestellt, ein Mann mit rundem Gesicht, Stoppelhaarschnitt und strahlendem Lächeln.

Der Konflikt verläuft auch entlang religiöser Fronten.

Zwischen 10 000 und 12 000 Syrer sind in den vergangenen Wochen am Nil eingetroffen. Täglich kommen 20 bis 50 weitere Familien, Mitarbeiter einer lokalen Hilfsorganisation, deren Anlaufstelle ein Zelt mit syrischen Rebellenflaggen auf dem Tahrir-Platz ist. Die große Mehrheit sind Frauen und Kinder. Die Männer sind entweder tot, verschollen, verletzt, verhaftet oder als Geiseln gekidnappt in dem immer brutaler werdenden Religionskrieg zwischen der Regimesekte der Alawiten und der Mehrheit der Sunniten. Fünf Verwandte des Hadad-Clans in Homs sind von der alawitischen Seite als Geiseln verschleppt. Von den drei Alawiten jedoch, die ausgetauscht werden sollten, sind zwei nicht mehr am Leben, sagt die Familie. Nun trauen sich die sunnitischen Unterhändler nicht, das der anderen Seite zu sagen, für die fünf Sunniten wäre das der sichere Tod.

„Wir können nachts nicht schlafen, weil wir immerzu über an unsere Männer und Söhne denken“, sagen die Frauen. Ein verwackeltes Video ist das einzige Andenken an das einst mit Leben und Lachen gefüllte Familienwohnhaus in Homs. In den drei Läden unten klaffen große Löcher, in den oberen Stockwerken sind die Decken geborsten, das Nachbarhaus ist eine totale Ruine.

Von den 1,5 Million Einwohnern in Homs sind inzwischen eine Million geflohen. 80 Prozent der Stadt sind zerstört, in Idlib, Rastan, Hama, Deir Ezzor und Deraa sieht es nicht viel besser aus. Nur mit ihren Kleidern am Leib entkamen die Hadads dem Inferno, suchten zunächst in einer Trabantenstadt von Damaskus Unterschlupf, bis die Schießereien auch hier losgingen und sie weiter nach Kairo flüchteten. Dem Großvater brach unterwegs das Herz, er starb an einem Infarkt.

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15 seiner Enkel tollen nun durch die Vier-Zimmer-Wohnung im Exil, der jüngste ein Jahr, die ältesten zwölf. Nachts schlafen alle 35 Bewohner auf ausgerollten Bastdecken und billigen Schaumstoffmatratzen. Nur ein paar abgewetzte Sessel gehören zum Inventar. Von der Decke hängen Glühbirnen. Und neben der Haustür türmen sich die Schuhe von Groß und Klein. „Wir beten Tag und Nacht, dass die Lage in Syrien sich verbessert und wir nach Hause zurück können“, sagen sie.

Doch danach sieht es nicht aus. Die Mieten für Juli sind bezahlt, ein paar Töpfe, Gläser, Teller, Gabeln und Löffel haben sie kaufen können, weil die Katholische Kirchengemeinde St. Laurentius in Berlin-Mitte in der ersten Not mit Geld aushalf. Doch wie es danach weitergeht, weiß die Großfamilie nicht. „Alles, was wir gespart hatten, haben wir ausgegeben, 16 Monate im belagerten Homs haben unsere sämtlichen Reserven aufgezehrt“, sagen sie.

Die Menschenmassen bringen auch Probleme: In der Türkei gibt es Unruhe in den Flüchtlingslagern.

Nach der Statistik des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind inzwischen mehr als 120 000 Menschen vor der Gewalt in Syrien über die Grenzen nach Libanon, Türkei und Jordanien sowie Ägypten geflohen. Im Lande selbst irren mindestens eine Million Menschen herum, suchen Schutz in Schulen oder campieren in öffentlichen Parks. Die wirkliche Zahl aber liegt weitaus höher, weil sich längst nicht alle beim UNHCR registrieren lassen.

Auch lastet dieser Massenexodus immer schwerer auf den Nachbarländern. In der Türkei, wo 40 000 Menschen in Zeltlagern ausharren, ging die Polizei am Wochenende sogar mit Tränengas gegen Flüchtlinge vor, die mit Steinwürfen gegen ihre schlechte Versorgung protestierten. „Wir haben seit drei Tagen nichts mehr zu essen und zu trinken“, schrie ein junger Mann den Uniformierten entgegen. „Tötet uns doch“, rief eine Mutter mit ihrem Baby auf dem Arm, „dann seid ihr uns los.“ Jordaniens Behörden melden inzwischen 2500 Flüchtlinge täglich.

30 000 Menschen aus Damaskus versuchten seit Mitte vergangener Woche, sich im Libanon in Sicherheit zu bringen. In Viererreihen stauten sich die Autos an dem 50 Kilometer entfernten Übergang Masnaa. Viele Insassen verbrachten die ersten Nächte auf libanesischer Seite in ihren Autos in der Hoffnung, bald wieder zurückzukönnen.

Video: Chemiewaffen – Obama warnt Syrien

„Man hat das Gefühl, die Regierung verliert langsam, aber sicher die Kontrolle“, zitiert die „New York Times“ einen jungen Ingenieur, der wie alle Flüchtlinge seinen Namen nicht nennen will. „Man kann es sehen, man kann es spüren, der Bürgerkrieg kommt“, sagt er und spricht von dem schlimmsten Ramadan in der Geschichte Syriens. „Die Sunniten brennen darauf, endlich Rache zu nehmen – und bei den Alawiten wächst die Angst um ihr Leben.“

Kurz vor 19 Uhr ertönt in Kairo der erlösende Ruf vom Dach der nahen Moschee, der für heute das Ende des Fastens verkündet: „Die Sonne ist untergegangen!“ Nun kehrt in die aufgewühlten Seelen der Familie Hadad ein wenig Ruhe ein. Das Fernsehen ist ausgeschaltet, es wird geschwatzt und auch gelacht.

Auf dem Boden sind ägyptische Zeitungen ausgebreitet, darauf steht das Essen zum Fastenbrechen, da es weder Tisch noch Tischdecken gibt. Fisch und Salate stehen da, Kartoffeln und Linsensuppe, zu trinken gibt es Wasser aus der Leitung und als krönenden Abschluss ein Glas mit Tamarindensaft – wie zu Zeiten des Propheten Mohammed. Der Ramadan und unser Glaube helfen uns, sagt die Familie. „Gott wird uns beistehen, denn wir haben niemandem etwas angetan.“

(Spendenkonto: Katholische. Kirchengemeinde St. Laurentius, Berlin. Kontonummer: 6000967015. BLZ: 37060193. Pax-Bank, Berlin. Stichwort: „Syrienflüchtlingshilfe“)

Martin Gehlen

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